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London NW: Roman (German Edition)

London NW: Roman (German Edition)

Titel: London NW: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zadie Smith
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doch, dass ich kein Weißmehl vertrage.«
    »Der ist ja auch nicht für dich.«
    Er ging schweigend aus dem Zimmer, und es war nicht ganz klar, ob das nun der Anfang eines Streits war oder nicht. Wahrscheinlich würde er das später entscheiden, je nachdem, ob sich irgendein praktischer Nutzen aus der Auseinandersetzung ziehen ließ. Natalie Blake stützte die Hände auf die Arbeitsfläche und starrte lange auf die gelben Küchenkacheln vor ihrer Nase. Für wen war das alles? Für Leah? Für Michel?
146. Cheryl (L. I. E. B. E.)
    »Räum das einfach weg.« Mit der brüllenden Carly auf einem Arm bückte sich Cheryl und wischte die Barbie und die Werbepost auf den Boden. Natalie griff nach einem Jahrbuch mit hartem Einband und stellte die Teebecher darauf. »Wenn ich die Kleine ans Schlafen gekriegt hab, können wir auch ins Wohnzimmer gehen.« Sie saßen einander gegenüber auf ihren alten Betten. Natalie glaubte, sich zu erinnern, dass sie einmal mit ihrer Schwester auf einem dieser Betten gelegen und ihr zittrige Buchstaben auf den nackten Rücken gemalt hatte, die Cheryl dann erraten und zu Wörtern zusammensetzen musste. Cheryl gab Carly die Flasche. Sie saß sehr aufrecht und hielt ihr drittes Kind im Arm. Eine erwachsene Frau mit Erwachsenensorgen. Natalie setzte sich in den Schneidersitz wie ein Kind und behielt ihre schönen Erinnerungen für sich. Hatte nicht schon das Konzept der »schönen Erinnerung« etwas Unreifes an sich?
    »Gib mir mal das Tuch, Keisha. Sie kotzt alles wieder aus.«
    Pocahontas auf der geschlossenen Jalousie. Die Sonne ließ sie golden erstrahlen. Insgesamt sah das Zimmer noch so aus wie früher, nur dass es jetzt grob in einen Jungen- und einen Mädchenbereich unterteilt war: ersterer ganz in Rot, Blau und Spiderman gehalten, zweiterer in strassverziertem Prinzessinnenpink. Natalie hob einen Kipplaster auf und ließ ihn ihren Oberschenkel entlangfahren.
    »Zwei gegen einen.«
    Cheryl hob müde den Kopf; das Baby war unruhig und wollte sich nicht aufs Trinken konzentrieren.
    »Ich mein ja nur – der Krieg zwischen Rosa und Blau. Jetzt, wo Cleo und Carly zu zweit sind, hat der arme Ray keine Überlebenschancen mehr.«
    »Überlebenschancen? Was redest du denn da?«
    »Nichts. Tut mir leid, mach einfach weiter.«
    Auf jeder Ablagefläche stapelten sich Dinge wackelnd auf anderen Dingen, und wieder andere hingen daran, waren darum herumdrapiert oder dazwischengestopft. Kein Blake war in der Lage, je etwas wegzuschmeißen. Bei Natalie war das auch nicht anders, nur dass die hohen Türme billigen Konsummülls bei ihr hinter Schranktüren verschwanden, verborgen vom besseren Stauraum.
    Cheryl zog dem Baby den Sauger aus dem Mund und seufzte: »Die schläft nicht. Gehen wir einfach rüber.«
    Natalie folgte ihrer Schwester durch den schmalen Flur, wo fast kein Durchkommen war wegen der Wäsche, die an Schnüren von beiden Wänden hing.
    »Kann ich was tun?«
    »Ja, nimm sie mal kurz, dann kann ich pinkeln gehen. Komm, Carly, geh zu deiner Tante.«
     
    Natalie hatte keine Scheu im Umgang mit Babys; dafür hatte sie zu viel Übung. Sie setzte sich Carly locker auf die Hüfte und rief mit der anderen Hand Melanie an, um ihr ein paar unnötige Anweisungen zu geben, die gut hätten warten können, bis sie beide wieder im Büro waren. Dabei ging sie im Zimmer auf und ab, schaukelte das Baby und redete laut, beiläufig, die Kompetenz in Person. Das Baby schien ihre außergewöhnliche Kompetenz zu spüren, es wurde still und sah zu seiner Tante hoch, mit einem bewundernden Blick, in dem Natalie auch einen Hauch von Wehmut zu erkennen meinte.
    »Aber es ist ja so, weißt du«, sagte Cheryl, als sie wieder hereinkam. »Jay ist weg, jetzt ist genug Platz hier. Und ich will Mum nicht einfach hängen lassen.«
    »Irgendwann wird Gus ja mal mit Bauen fertig sein. Dann zieht sie nach Jamaika.«
    Cheryl presste sich beide Hände ins Kreuz und schob den Bauch vor, eine dieser deprimierenden Müttergesten, von denen Natalie überzeugt war, dass sie sie nie machen würde, falls beziehungsweise wenn sie jemals Mutter wurde. »Das dauert noch«, sagte Cheryl und streckte sich gähnend. »Er hat Fotos geschickt. Keine Mail – richtige Fotos im Umschlag. Das ist ’ne Wellblechschachtel ohne Dach. Im Bad wächst ’ne Palme.«
    Auf diese Weise an die Naivität ihres Vaters erinnert, an seinen Optimismus und seine Lebensuntüchtigkeit, mussten die Schwestern beide lächeln, und Natalie fasste Mut. Sie drückte

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