London NW: Roman (German Edition)
ihre Nichte an die Brust und küsste sie auf die Stirn.
»Ich kann es einfach nicht ertragen, euch so leben zu sehen.«
Cheryl ließ sich in den alten Sessel ihres Vaters sinken, schaute kopfschüttelnd zu Boden und lachte unfreundlich.
»Und los geht’s«, sagte sie.
Natalie Blake, deren größte Angst es war, sich zu blamieren oder auch nur für einen kurzen Moment auf der falschen Seite einer moralischen Frage zu stehen, tat, als hätte sie nichts gehört, und lächelte das Baby an und hob das Baby in die Höhe, um es zum Lachen zu bringen, und als das nicht funktionierte, setzte sie es sich wieder auf den Schoß.
»Wenn du Caldie so scheiße findest, warum kommst du dann überhaupt her? Im Ernst, Mann. Keiner zwingt dich zu kommen. Geh doch wieder in dein neues großes Haus. Ich hab genug zu tun – und eigentlich hab ich auch gar keine Zeit, hier mit dir rumzuhocken und zu reden. Manchmal gehst du mir echt auf den Sack, Keisha. Im Ernst jetzt mal.«
»Als ich noch bei RSN war«, sagte Natalie energisch, mit der Stimme, die sie vor Gericht einsetzte, »weißt du, wie viele meiner Mandanten da Caldies waren? Was ist denn so schlimm daran, dass ich dich und die Kinder gern irgendwo sähe, wo es schön ist?«
»Hier ist es schön! Es gibt viel Schlimmeres. Dir hat’s doch auch nicht geschadet. Ich sag dir ganz ehrlich, Keisha, wenn ich hier wegwollen würde, dann würd ich mir eher von der Bezirksverwaltung ’ne andere Bude zuweisen lassen, als dich um was zu bitten.«
Natalie richtete ihre Erwiderung an den vier Monate alten Säugling.
»Ich weiß wirklich nicht, warum deine Mum so mit mir redet. Ich bin doch ihre einzige Schwester!«
Cheryl beschäftigte sich mit einem Fleck auf ihrer Leggings. »Komm schon, Keisha, so eng waren wir ja wohl nie.«
In Natalies Handtasche, im Innenfach neben ihrem Portemonnaie, steckten drei Zolpidem.
»Ich bin doch auch vier Jahre jünger«, hörte sie sich sagen, mit schwacher Stimme, lächerlicher Stimme.
»Na, daran lag’s ja wohl nicht«, meinte Cheryl, ohne aufzusehen.
Natalie sprang aus dem Sessel. Im Stehen stellte sie fest, dass die kleine Carly ihre theatralischen Möglichkeiten erheblich einschränkte. Das Baby war an ihrer Schulter eingeschlafen. Einer seit Kindertagen unveränderten Dynamik folgend wurde Natalie wütend, während ihre Schwester Cheryl immer ruhiger wurde.
»Oh Verzeihung, ich hatte ja ganz vergessen, dass man in dieser Scheißfamilie keine Freunde haben darf.«
»Erst kommt die Familie. Daran glaub ich. Zuallererst kommt Gott, dann die Familie.«
»Jetzt hör mal auf mit dem Scheiß, ja? Hier kommt die Heilige Jungfrau Maria. Nur, weil die Väter alle abgehauen sind, waren das noch lange nicht lauter unbefleckte Empfängnisse.«
Cheryl stand auf und streckte ihrer Schwester den Zeigefinger ins Gesicht. »Pass du mal lieber auf, was du sagst, Keisha. Und warum musst du eigentlich ständig fluchen, Mann? Zeig mal ’n bisschen Respekt.«
Natalie brannten Tränen in den Augen, und ein Schwall kindischen Selbstmitleids riss sie mit sich fort.
»Wieso werde ich dafür bestraft, dass ich was aus meinem Leben gemacht habe?«
»Ach du liebe Zeit! Wer bestraft dich denn, Keisha? Kein Mensch. Das ist alles in deinem Kopf. Du hast echt voll die Paranoia, Mann.«
Natalie Blake war nicht mehr zu stoppen. »Ich arbeite wie verrückt. Ich bin ohne Reputation da reingekommen, ohne alles. Ich habe mir eine ernst zu nehmende Kanzlei aufgebaut – hast du eigentlich eine Ahnung, wie wenige ...«
»Bist du echt hergekommen, um mir zu erzählen, was für ’ne große Nummer du jetzt bist?«
»Ich bin hergekommen, weil ich dir helfen will.«
»Aber hier braucht keiner deine Hilfe, Keisha! So sieht’s aus! Ich will nichts von dir, Ende Gelände.«
Und jetzt mussten sie Carly von Natalies Schulter an die ihrer Mutter verfrachten, ein merkwürdig zärtliches Manöver inmitten des Gemetzels.
Natalie Blake suchte verzweifelt nach einer letzten Spitze. »Du solltest echt an deiner Einstellung arbeiten, Cheryl. Im Ernst. Vielleicht solltest du dir auch Hilfe holen, das ist nämlich wirklich problematisch.«
Sobald Cheryl das Baby auf dem Arm hatte, wandte sie sich von ihrer Schwester ab und ging durch den Flur zurück in ihr Zimmer.
»Ja, weißt du, Keisha, bis du mal selber Kinder hast, brauchst du mir echt nichts mehr zu erzählen.«
147. Anzeigen
Auf der Website war sie das, was alle suchten.
148. Zukunft
Natalie Blake und Leah Hanwell waren
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