London NW: Roman (German Edition)
immer klar, dass Irie diese Art Mutter wird«, sagte Ameeta. »Das hätte ich euch schon vor fünf Jahren sagen können.« Jetzt gab es nur noch das Private. Büro und Zuhause. Ehe und Kinder. Jetzt wollten sie alle nur noch in ihre Eigentumswohnungen zurückkehren und sich dem wahren Leben aus häuslichen Gesprächen, Fernsehen, Baden, Mittag- und Abendessen widmen. Brunchen lag außerhalb des Privaten, wenn auch nicht allzu weit – nur ganz knapp jenseits der Grenze. Aber selbst ein Brunch war zu weit weg von daheim. So ein Brunch existierte doch gar nicht. »Ich geb euch einen Tipp«, sagte Imran. »Fangt mit der dritten Folge der zweiten Staffel an.« War es möglich, ständig auf Kriegsfuß zu stehen, selbst beim Brunch? »Die hat ja inzwischen auch von jeder Hautfarbe ein Kind. So eine Art Vereinte Nationen der Blödheit«, sagte Frank, denn durch ironische Kommentare ließ sich das eigene Interesse am »Promi-Tratsch« überhöhen. »Ein ›Abenteuer‹ mit zwei Stripperinnen«, las Ameeta vor. »Warum eigentlich immer ›Abenteuer‹? Ich hatte mein ganzes Leben noch kein ›Abenteuer‹.« Sexuelle Verirrungen waren ebenfalls veraltet: Sie hatten den Hautgout vergangener Zeiten. In der heutigen Wirtschaftslage war das schmutzig, peinlich und unklug. »Ich weiß nie, was noch im Rahmen ist«, sagte Imran. »Zehn Prozent? Fünfzehn? Zwanzig?« Globales Bewusstsein. Lokales Bewusstsein. Bewusstsein. Und da wurden ihrer beider Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und schämten sich kein bisschen. »Da macht ihr euch aber was vor«, sagte Frank. »Am Park kriegt man nichts mehr unter einer Million.« Der Fehler lag in der Vorstellung, dass der Betrag eins zu eins für eine ganz bestimmte Anordnung aus Steinen und Mörtel stand oder ihr entsprach. Das Geld zahlte man nicht für die mickrigen Reihenhäuschen mit ihren kleinen Gärten. Das Geld zahlte man für die Distanz zu Caldwell, die einem das Haus ermöglichte. »Den Rock da«, sagte Natalie Blake und deutete auf ein Bild in der Beilage, »nur in Rot.«
Als aus dem Brunch ein Lunch wurde, bestellte Imran Pfannkuchen wie ein Amerikaner. Nach Jahrzehnten der Entbehrungen war der Kaffee endlich richtiger Kaffee. Wäre es nicht grausam, jetzt zu gehen, wo sie so weit gekommen waren? Alle vier erwiesen sie den anderen Leuten im Café einen Dienst, indem sie einfach hier saßen. Sie sorgten für das »Lokalkolorit«, mit dem die Makler warben. Aus demselben Grund mussten sie sich nicht übermäßig mit Politik befassen. Sie waren ja durch ihr bloßes Dasein schon politische Faktoren. »Kommt Polly gar nicht?«, fragte Frank. Alle vier überprüften ihre Handys auf Nachrichten von ihrer letzten verbliebenen Singlefreundin. Wie glatt das Gerät in der Hand lag. Ein blinkender Umschlag barg das Versprechen einer Verbindung zum Außen, Arbeit, Verabredungen. Natalie Blake war ein Mensch geworden, der nicht mehr für die Selbstbetrachtung gemacht war. Geistig sich selbst überlassen, schraubte sie sich direkt in die Selbstverachtung. Die Arbeit gefiel ihr, und während Frank die Wochenenden herbeisehnte, konnte sie ihre Freude auf den Montagmorgen kaum verbergen. Sie konnte sich nur vor sich selbst rechtfertigen, wenn sie arbeitete. Am liebsten hätte sie sich jetzt aufs Klo zurückgezogen und die nächste Stunde allein mit ihren Mails verbracht. »Wochenendschicht. Schon wieder«, sagte Imran. Er hatte die schnellste Netzverbindung. »Schade«, sagte Natalie Blake. Aber stimmte das wirklich? Wäre Polly hier, würde sie doch nur dasitzen und von ihren guten Taten berichten: Polizeiverhören und Zivilprozessen und internationalen Schlichtungsverfahren für benachteiligte Staaten, den aktuellen öffentlichen Meinungsäußerungen zur Rechtmäßigkeit des Krieges. Sie war von einer neuen, modernen, ethisch korrekten Kammer abgeworben worden, die sie sehr gut bezahlte und gleichzeitig über jeden moralischen Zweifel erhaben machte. Sie lebte den Traum. Es war das Jahr, als plötzlich alle »den Traum leben« sagten, und manchmal meinten sie es ernst, aber meistens ironisch. Natalie Blake, die auch sehr gut bezahlt wurde, empfand es inzwischen als fast unerträgliche Provokation, Polly zuhören zu müssen.
136. Apfelblüte, 1. März
Überrascht von Schönheit, im Vorgarten eines Hauses an der Hopefield Avenue. War der gestern schon da gewesen? Bei näherem Hinsehen zerfiel die weiße Wolke in Tausende winziger Blüten, gelb in der Mitte, mit etwas
Weitere Kostenlose Bücher