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London NW: Roman (German Edition)

London NW: Roman (German Edition)

Titel: London NW: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zadie Smith
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Melanies Privatleben wusste Natalie nur, dass ihr Freund Polizist war und es eine Tochter gab, die Raffaella hieß. Weder der Polizist noch Melanie waren Italiener.
    »Hier, nimm ein Taschentuch«, sagte Natalie. Sie hatte eine Rotz-Phobie. Melanie ließ sich auf einen Stuhl fallen. Sie zog ein Handy aus der Tasche. Zwischen heftigen Heulanfällen versuchte sie, etwas darauf zu finden. Natalie starrte auf ihren Daumen, der hektisch den Trackball betätigte.
    »Ich kann hier wirklich nicht mehr sein!« Das war nun eine interessante Problematik und höchst unerwartet aus dem Munde der klaren, verlässlichen Melanie, die Natalie häufig als ihren »Fels in der Brandung« bezeichnete. (Es war das Jahr, als plötzlich alle sagten, dieser oder jener Mensch sei ihr »Fels in der Brandung«.) Aber jetzt wurde Melanie schon wieder ganz pragmatisch: »Zumindest nicht die ganze Zeit! Es gibt Rafs nun mal, und ich hab sie so lieb, und ich will einfach nicht mehr so tun müssen, als gäbe es sie nicht! Sieh sie dir doch an – sie ist so verdammt toll, fast zwei ist sie jetzt.«
    Natalie beugte sich vor, um das Foto auf dem Bildschirm zu betrachten. Der Gutsherr, zu dem ein verschreckter Bauer kommt, um ihm ein Geständnis über die Ernte zu machen.
157. Am Park
    Natalie Blake war mit dem Grenzkonflikt in Kaschmir beschäftigt, zumindest insofern er sich darauf bezog, im Auftrag ihres riesigen japanischen Elektrokonzern-Kunden Stereoanlagen über Dubai nach Indien zu importieren. Ihr Mann, Frank De Angelis, betrieb Kundenpflege. Sie litten unter »Freizeitarmut«. Vor lauter harter Arbeit hatten sie nicht einmal Zeit, den jüngsten Lohn ihrer Mühen in Empfang zu nehmen. Marcia war so nett, den Schlüssel vor Geschäftsschluss beim Maklerbüro abzuholen, und Natalie traf sich mit ihrer Mutter und Leah vor der Tür. Als sie eintraten, flüsterten sie. Warum, war nicht ganz klar. Es gab noch keine Jalousien, und ihre Schatten ragten über den Kamin hinaus bis an die Decke. Natalie führte sie herum, zeigte ihnen, wo Sofas und Stühle und Tische stehen sollten, wo ein Durchbruch geplant war und was erhalten werden sollte, was mit Teppichboden versehen und was abgeschliffen und versiegelt werden würde. Natalie forderte Mutter und Freundin auf, ans Erkerfenster zu treten und den Blick auf den Park zu bewundern. Sie registrierte in sich den Drang nach totaler Unterwerfung.
    Sie lief ein Stück voraus, um ein Schlafzimmer zu bewundern. Schaut euch diese Originalfriese an. Der Kamin hier funktioniert. Sie wartete darauf, dass ihre Mutter und Leah nachkamen. Mit dem Fingernagel kratzte sie etwas losen Putz von der Wand. Als sie noch im Ausbildungsjahr war und bei einem Verfahren die »falsche« Seite vertrat, hatte Marcia von ihr verlangt, sie solle »doch mal an die Familie des Opfers denken«. Wenn sie jetzt von einem großen multinationalen Unternehmen beauftragt wurde, musste sie sich Leahs moralinsaure, schlecht informierte Vorträge über die Gefahren der Globalisierung anhören. Nur Frank unterstützte sie. Nur er war jemals stolz auf sie. Je prominenter ihre Fälle, desto besser gefiel ihm das. Cheryl, vor Jahren: »Immer, wenn ich mit der Schule weitermachen will, kommt Cole und will mich verprügeln.« Das hätte ihr auch blühen können. In Momenten des Zweifels half es immer, an Cheryl zu denken. Zumindest arbeiteten Natalie Blake und Frank De Angelis nicht gegeneinander oder standen irgendwie im Wettstreit. Sie waren eine Einheit. Ihre eigene Werbekampagne. Kommt, ich zeige euch die Werbekampagne für mich. Hier ist das Fenster, hier die Tür. Und noch mal, in Endlosschleife.
    Natalie öffnete gerade die Tür zu dem Zimmer, das sie als Arbeitszimmer für sich vorgesehen hatte, da sagte Marcia einen vermutlich ganz unschuldigen Satz – »Jede Menge Platz für Kinder hier« –, und Natalie brach einen Streit vom Zaun und wollte sich gar nicht mehr beruhigen. Sie sah zu, wie ihre Mutter durch den schwarz-weiß gefliesten Flur zur Tür ging, nicht mehr die unbeugsame Herrscherin ihrer Kindheit, sondern eine kleine, grauhaarige Frau mit schlaffer Wollmütze auf dem Kopf, die sicherlich eine liebevollere Behandlung verdient hatte, als ihr zuteilgeworden war.
    »Alles klar?«, fragte Leah.
    »Ja, ja«, sagte Natalie. »Nur das Übliche.«
    Leah fand ein paar Teebeutel im Küchenschrank und eine einzelne Tasse.
    »Offenbar bin ich tatsächlich für eine vorzeitige Ernennung zur Kronanwältin im Gespräch. Aber das interessiert sie

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