London NW: Roman (German Edition)
achtundzwanzig, als die ersten E-Mails eintrafen. Anhänge mit Fotos von fassungslosen Frauen mit Krankenhausbändchen ums Handgelenk und Babys auf der Brust und aus unerfindlichen Gründen patschnassen Haaren. Sie schienen einen Abgrund überquert zu haben und in eine andere Welt gelangt zu sein. Es war absolut im Bereich des Möglichen, dass ihre eigene Mutter diese frischgebackenen Mütter daheim besuchte, das Namensschild am Kittel, und den Babys mit einer Nadel in den Fuß pikste oder die Nähte der frischgebackenen Mütter begutachtete, während sie seitlich auf dem Sofa lagen. Nach den Gesetzen des Ortsdurchschnitts musste Marcia mindestens ein oder zwei davon besucht haben. Es waren Neuzugänge im Viertel. Nicht die Sorte Leute, die das Licht ausmachten und sich auf den Boden legten. Mutter und Kind wohlauf, aber erschöpft. Als hätte vorher in der Geschichte der Menschheit noch nie jemand ein Kind bekommen. Und alle sagten genau das, es war der neue Modesatz: »Als hätte vorher noch nie jemand ein Kind bekommen.« Natalie leitete die Mails an Leah weiter. Als hätte vorher noch nie jemand ein Kind bekommen.
149. Aus Natur wird Kultur
Vieles, was ihren eigenen Müttern noch als offensichtlicher Bestandteil einer pragmatischen Welt vorgekommen war, erschien Natalie und Leah jetzt entweder als Überraschung oder als Zumutung. Körperliche Schmerzen. Krankheiten. Die Unterschiede zwischen Männern und Frauen beim fortpflanzungsfähigen Alter. Das Alter überhaupt. Der Tod.
Das eigentlich Skandalöse war die eigene Körperlichkeit. Das Faktum des Fleisches.
Stark, wie sie war, beschloss Natalie Blake zu kämpfen. Gegen all diese Umstände in den Kampf zu ziehen, wie ein Soldat.
150. Anzeigen
Nachdem sie wieder einmal eine Baby-Mail geöffnet hatte, loggte sie sich auf der Website ein und stellte einen Beitrag auf die Website. Dann ging sie nach oben ins Bett.
151. Redaktion
»Wo willst du hin?«
Natalie Blake schob die Hand ihres Mannes von ihrem Schienbein und stieg aus dem Bett. Sie ging den Gang entlang ins Gästezimmer und setzte sich vor den Rechner. Sie gab die Adresse so flüssig in den Browser ein, wie ein Pianist seine Tonleitern spielt. Sie löschte den Beitrag wieder.
152. Vergangenheit
»Nathan?«
Er hockte im Musikpavillon im Park und rauchte, mit zwei Mädchen und einem Jungen. Zwei Frauen und einem Mann. Aber angezogen waren sie wie Teenager. Natalie Blake war angezogen wie eine erfolgreiche Anwältin Anfang dreißig. Unter sich wären sie vielleicht einmal rund um den Park gegangen, sie und er, und hätten über die Vergangenheit geredet, vielleicht hätte sie auch die hässlichen Pumps ausgezogen und sie hätten sich ins Gras gesetzt und Natalie hätte sein Dope geraucht und ihn dann mütterlich ermahnt, die Drogen sein zu lassen, und er hätte genickt und gegrinst und es ihr versprochen. Doch in dieser Gesellschaft wusste sie nicht, wie sie sein sollte.
Ganz schön heiß, sagte Nathan Bogle. Ja, allerdings, bestätigte Natalie Blake.
153. Brixton
Die Einladung stand seit Langem, aber sie hatte nicht angerufen und auch keine SMS geschickt, um Bescheid zu geben, dass sie kommen würde. Der Impuls überkam sie an der Victoria Station. Eine Viertelstunde später ging sie die Brixton High Street entlang, erschöpft von Gerichtsverhandlungen, noch im Kostüm, und war den fröhlichen Menschen im Weg, die gerade in den Freitagabend starteten. An einer Tankstelle kaufte sie Blumen und dachte an all die vielen Filmszenen, in denen Leute Blumen an Tankstellen kaufen und es hinterher eigentlich immer besser gewesen wäre, mit leeren Händen zu kommen. Sie suchte das Haus, klingelte. Ein tuntiger Typ mit blond gefärbtem Afro öffnete.
»Hallo. Ist Jayden da? Ich bin seine Schwester, Nat.«
»Aber klar doch. Du siehst original aus wie Angela Bassett!«
In der Küche war es verwirrend voll. War es die Tunte? Oder einer von den Weißen? Oder der Chinese oder dieser andere Typ?
»Er duscht gerade. Tee oder Wodka?«
»Wodka. Seid ihr im Aufbruch?«
»Wir sind eben reingekommen. Zu essen gibt es übrigens nur diesen Jaffa Cake.«
154. Naturgewalt
Wann war sie zuletzt so betrunken gewesen? Irgendwie förderte es den Exzess, mit so vielen Männern zusammen zu sein, die alle nichts von ihr wollten. Sie erfuhr vieles über ihren kleinen Bruder, was sie bisher nicht gewusst hatte. Er war ein »berühmter« White-Russian-Trinker. Er war in Nathan Bogle verknallt gewesen. Er las gern Fantasyromane.
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