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London NW: Roman (German Edition)

London NW: Roman (German Edition)

Titel: London NW: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zadie Smith
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Er schaffte mehr einarmige Liegestütze als jeder andere Mann im Raum.
    Der Wodka ging aus. Sie stiegen auf ein blaues Zeug um, das sie im Schrank gefunden hatten. Natalie wurde klar, dass es hier im Haus keinen Besonderen, Auserwählten gab. Jayden hatte es fertiggebracht, sich genau die fließenden, freundschaftlichen Lebensumstände zu schaffen, von denen sie Jahre zuvor selbst geträumt hatte. Dass es ihr trotzdem nicht ganz gelang, sich für ihn zu freuen, lag daran, dass dieses Arrangement zeitlos war – es unterlag nicht den Zwängen der Zeit –, und das wiederum ergab sich aus einem entscheidenden Detail: In dem Schema waren keine Frauen vorgesehen. Frauen bringen die Zeit mit sich. Auch Natalie hatte die Zeit in dieses Haus gebracht. Sie konnte nicht aufhören, von der Uhrzeit zu reden und sich deswegen zu sorgen. Wenn sie sich bloß aus ihrem Körper befreien und mit den anderen in die Vauxhall Tavern gehen könnte, zum »Schichtwechsel«. Aber in Wahrheit hatte sie zehn SMS von Frank, und es war Zeit, nach Hause zu fahren. Es war wirklich Zeit.
    »Und alles in derselben Woche«, erzählte Jayden. »In einer Woche hat sie dem kleinen Proll bei uns in der Siedlung, der mich damals auf dem Kieker hatte, eins auf die Mütze gegeben, einfach weggejagt hat sie ihn, und das, nachdem sie gerade aus der letzten Prüfung kam. Überall nur die besten Noten. Die Frau bringt’s. Ist ’ne Naturgewalt, meine Schwester!«
    Das Zimmer schwankte und drehte sich. Natalie kam die Geschichte nicht einmal bekannt vor. Sie glaubte nicht, dass diese beiden Dinge wirklich passiert waren, zumindest nicht in derselben Woche, womöglich nicht einmal im selben Jahr. Und die besten Noten hatte sie auch nicht überall bekommen. Das war an diesem Abend schon ein paarmal vorgekommen, dass die Versionen voneinander abwichen, und anfangs hatte sie noch versucht, sie zurechtzuzimmern, zu widersprechen, aber jetzt ließ sie sich einfach in die Arme eines Mannes namens Paul sinken und streichelte seinen Bizeps. War es denn wichtig, was stimmte und was nicht?
155. Ein paar Überlegungen zum Fernsehen
    Sie sah sich mit Marcia die Armen an. Eine Reality-Serie, die in einer Sozialsiedlung spielte. Die Sozialsiedlung auf dem Bildschirm war nur geringfügig schlimmer als die Sozialsiedlung, in der sie saß und sich die Sendung über die Sozialsiedlung ansah. Von Zeit zu Zeit wies Marcia darauf hin, wie dreckig die Wohnungen der Leute im Fernsehen waren und wie sorgfältig sie, Cheryls Chaos zum Trotz, ihre eigene pflegte. »Guinness. Um zehn Uhr morgens!«, rief Marcia. Natalie, die die Sendung nicht kannte, erkundigte sich nach der charakterlichen Entwicklung einer der Teilnehmerinnen. Marcia umklammerte beide Sessellehnen und schloss die Augen. »Die ist auf Crack. Interessiert sich nur für Make-up und Klamotten. Ihr Bruder bekommt Krankengeld, dabei ist alles in Ordnung mit ihm. Eine Schande ist das. Der Vater sitzt im Knast, weil er gestohlen hat. Die Mutter drückt.« Die Sendung verstand Armut als Charakterzug. »Sieh dir das an! Sieh dir dieses Bad an! Eine Schande! Was für Leute leben denn so? Hast du das gesehen?« Natalie plädierte auf unschuldig. Sie hatte gerade nicht hingeschaut, einen Blick auf ihr Handy geworfen. »Ständig schaust du auf dieses Handy. Bist du jetzt gekommen, um mich zu besuchen oder um mit deinem Handy rumzuspielen?«
    Natalie blickte auf. Ein junger Typ mit nacktem Oberkörper rannte mit einer Bierflasche in der Hand über ein kümmerliches Stück Rasen zwischen zwei Hochhäusern und warf mit der Flasche das einzig verbliebene Fenster eines ausgebrannten Wagens ein. Musik untermalte die Szene. Sie besaß eine gewisse Schönheit.
    »Ich kann das nicht leiden, wenn die Kamera die ganze Zeit so herumwackelt«, sagte Marcia. »Da kann man doch nicht einen Moment vergessen, dass es gefilmt ist. Warum machen die das heutzutage nur immer?«
    Das fand Natalie eine tiefsinnige Frage.
156 Melanie
    Natalie Blake saß im Büro und machte sich Notizen zu einem undurchsichtigen Detail des Eigentumsrechts hinsichtlich seiner Anwendbarkeit auf Ersitzung, als Melanie hereinkam, zum Reden ansetzte und stattdessen in Tränen ausbrach. Natalie wusste nicht, wie mit weinenden Menschen zu verfahren war. Sie legte Melanie eine Hand auf die Schulter.
    »Ist etwas passiert?«
    Melanie schüttelte den Kopf. Flüssigkeit lief ihr aus der Nase, und in ihrem Mundwinkel bildete sich eine kleine Blase.
    »Probleme zu Hause?«
    Über

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