London NW: Roman (German Edition)
konnten.
Zurück zurück zurück. Zurück, Keisha.
Was?
Beweg dich.
Natalie spürte, wie er sie mit der Schulter ein paar Meter weiterschob, bis sie am äußersten Punkt zwischen zwei Straßenlaternen standen. Auf der anderen Seite des Gitters warf ein spilleriger viktorianischer Laternenpfahl seinen schwachen Schein auf die Blumenbeete. Als Naomi noch klein war, hatte Natalie sich ihre Tochter immer vor die Brust geschnallt und auf diesem Friedhof ihre Runden gedreht, in der Hoffnung, das Baby würde so sein Nachmittagsschläfchen halten. Die Anwohner behaupteten, Arthur Orton läge hier irgendwo begraben. Bei all ihren Runden hatte sie ihn nie gefunden.
Lass uns reingehen. Ich will da reinklettern.
Holla. Keisha dreht durch.
Lass uns reinklettern. Komm schon. Ich hab keine Angst. Wovor hast du denn Angst? Vor den Toten?
Ich weiß nichts von Geistern, Keisha. Und ich will auch nix davon wissen.
Natalie wollte ihm den Joint zurückgeben, doch Nathan führte ihn zurück an ihre Lippen.
Was machst du überhaupt hier draußen, Keisha? Du solltest zu Hause sein.
Ich geh nicht nach Hause.
Wie du willst.
Hast du Kinder, Nathan?
Ich? Nee.
Ein sanftes Surren war zu hören und wurde immer lauter, dann folgte ein Quietschen. Ein Fahrrad kam abrupt vor ihnen zum Stehen. Ein junger Mann mit ungepflegten Canerows, das eine Hosenbein bis zum Knie hochgekrempelt, schob sein Fahrrad zur Seite, beugte sich vor und flüsterte Nathan etwas ins Ohr. Nathan lauschte kurz, schüttelte dann den Kopf und machte einen Schritt zurück.
Vergiss es, Mann. Zu spät.
Der Junge zuckte mit den Achseln und trat wieder in die Pedale. Natalie sah zu, wie das Fahrrad am alten Kino vorbeibrauste.
Ist doch ’n Todesurteil.
Was?
Kinder. Wenn sie geboren werden, müssen sie auch sterben. Das ist es, was man ihnen letztendlich mitgibt. Weißt du, Keisha, genau darum red ich so gern mit dir. Du bist echt. Wir führen immer tiefe Gespräche, du und ich.
Ich wünschte, wir hätten öfter reden können.
Ich steh auf der Straße, Keisha. Hab ziemlich Pech gehabt. Novlene sagt den Leuten nicht, was Sache ist. Aber ich will nicht lügen. Siehst es ja. Das bin ich. What you see is what you get .
Natalie sah weiter dem Jungen mit dem Fahrrad nach. Sie hatte sich angewöhnt, sich für das Pech anderer Leute zu schämen.
Ich habe Novlene auf der High Road getroffen, vor einiger Zeit.
Kluge Keisha.
Was?
Hat sie dir erzählt, dass sie mich nicht mehr ins Haus lässt? Ich wette nein. Na los, kluge Keisha. Sag was Kluges. Bist doch jetzt Anwältin, oder.
Ja. Barrister. Ist aber auch egal.
Hast ’ne Perücke auf. ’nen Hammer in der Hand.
Nein. Ist aber auch egal.
Du hast wenigstens was erreicht. Meine Mum erzählt mir immer so gern von dir. Die kluge Keisha. Ey, guck mal, der Fuchs. Schleicht da rum.
Er hatte eine kleine Lampe an seinem Handy und leuchtete damit durch die Gitterstäbe. Ein hässlicher Fuchsschwanz – wie eine verbogene alte Bürste – verschwand hinter einer Eiche.
Hinterlistige Viecher. Sind überall, die Füchse. Haben längst das Kommando, wenn du mich fragst.
Der Fuchs war mager und schien seitwärts über die Gräber zu laufen. Nathan folgte ihm mit der Taschenlampe, bis es nicht mehr ging, bis das Tier ins Nichts sprang und verschwunden war.
Wie bist du eigentlich auf die Schiene gekommen?
Jura, meinst du?
Ja. Wie bist du da reingekommen?
Weiß ich nicht. Ist einfach so passiert.
Du warst immer klug. Du hast’s verdient.
Nicht notwendigerweise.
Da ist er wieder! Schnell sind die, diese Füchse!
Ich muss los.
Nathans Beine gaben nach. Er kippte. Erst gegen das Gitter und dann seitlich gegen Natalie. Sie hatte nicht damit gerechnet, jemand anderen stützen zu müssen. Am Gitter entlang glitten sie beide zu Boden.
Meine Güte – du musst echt mit dem Rauchen aufhören.
Bleib hier, Keisha, und red ’n bisschen mit mir. Red mit mir, Keisha.
Sie streckten die Beine auf den Gehsteig.
Mit mir redet ja keiner mehr. Gucken mich alle an, als wär ich ’n Fremder. Leute, die ich noch von früher kenn, mit denen ich rumgezogen bin.
Er legte sich die Hand flach auf die Brust.
Da ist zu viel Tempo im Spiel. Das Herz sprintet. Kleiner Pisser. Ich weiß echt nicht, warum ich mich mit dem noch abgeb. Er ist doch schuld dran. Treibt den Scheiß immer zu weit. Aber wie soll ich Tyler aufhalten? Nur Tyler kann Tyler aufhalten. Eigentlich sollt ich hier gar nicht mit dir reden, ich sollt in Dalston sein, weil ich
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