London NW: Roman (German Edition)
doch gar nichts dafür kann, er ist schuld. Aber dann guck ich mich wieder an und frag mich: Nathan, warum bist du immer noch hier? Warum bist du noch hier? Und ich weiß nicht, warum. Das mein ich nicht als Witz. Eigentlich sollt ich vor mir selber abhauen.
Beruhig dich. Tief durchatmen.
Ich muss wieder klarkommen, Keisha. Lauf noch ’n Stück mit mir.
Er streifte die Kapuze ab, nahm die Mütze ab. Hinten am Nacken hatte er einen münzgroßen weißen Fleck.
Los, komm, Bewegung.
In Sekundenschnelle stand er aufrecht. Rot-blaues Licht wanderte über die Friedhofsmauer.
Und was ist damit?
Wirf ihn einfach weg. Los. Tempo.
Von Shoot Up Hill nach Fortune Green
Dort, wo die Kilburn High Road auf Shoot Up Hill trifft, hielten sie an, auf dem Vorplatz der U-Bahn-Station.
Warte hier.
Nathan ließ Natalie bei den Fahrkartenautomaten stehen und ging in Richtung Blumenstand davon. Sie wartete, bis er außer Sicht war, dann ging sie hinterher und hielt am Rand des Vordachs an. Er stand im Eingang eines Schnell-Chinesen, sprach mit zwei Frauen, flüsterte mit ihnen. Die eine trug einen kurzen Lycrarock und ein Kapuzenshirt, die andere war klein, im Trainingsanzug und mit einem Kopftuch, das halb am Hinterkopf hing. Die drei standen dicht beieinander. Etwas wechselte den Besitzer. Natalie sah, wie Nathan der kleineren Frau die Hand auf den Kopf legte.
Was hab ich gerade gesagt? Ich will nicht alles zweimal sagen müssen.
Ich sag ja gar nix.
Gut. So soll’s auch bleiben.
Nathan trat aus dem Eingang, sah Natalie und stöhnte. Die Frauen gingen in die andere Richtung davon.
Wer waren die zwei?
Niemand.
Ich weiß so einiges. Eine Zeit lang war ich jede Nacht in den Zellen an der Bow Street.
Die sind zu. Jetzt bringen sie einen immer nach Horse-ferry.
Stimmt.
Ich weiß auch so einiges, Keisha. Ich hab Köpfchen. Bist hier nicht die einzige Kluge.
Ist mir klar. Wer waren die zwei?
Wir nehmen Shoot Up Hill und dann quer rüber.
Die Straße war noch länger und breiter als sonst. Die Häuser und Wohnungen an dieser Straße sind weit nach hinten versetzt, sie sehen aus wie geheime Schlupfwinkel, als fürchteten die Leute, die dort leben, immer noch die Wegelagerer, denen die Straße ihren Namen verdankt. Natalie schien es unmöglich, je das Ende zu erreichen.
Hast du Geld dabei?
Nein.
Wir könnten uns ’n Bier kaufen.
Ich hab nichts bei mir, Nathan.
Eine Zeit lang gingen sie schweigend weiter. Nathan hielt sich nah an den Häuserwänden, trat nie in die Mitte des Gehsteigs. Und Natalie merkte plötzlich, dass sie nicht mehr heulte und zitterte und dass sich Angst schwerer für mehr als einen Moment bewahren lässt als jedes andere Gefühl auf Erden. Sie konnte sich den Texturen dieser Welt, die ihr hier dargeboten wurden, nicht entziehen: weißer Stein, grüner Rasen, rötlicher Rost, grauer Schiefer, braune Scheiße. Fast war es angenehm, so ins Nichts zu schlendern. Sie überquerten die Straße, Natalie Blake und Nathan Bogle, und gingen weiter bergauf, an den schmalen roten Luxuswohnungen vorbei, hoch zum Geld. Die Welt der Sozialbauten lag weit hinter ihnen, am Fuß des Hangs. Jetzt tauchten viktorianische Bauten auf, anfangs nur wenige, dann immer mehr. Frischer Kies in der Auffahrt, weiße Holzrollläden vor den Fenstern. Werbetafeln von Maklerbüros an den Toren.
Manche dieser Häuser sind heute zwanzigmal mehr wert als noch vor zehn Jahren. Dreißigmal mehr.
So.
Sie gingen weiter. Am Gehsteig entlang hatte die Stadt eine optimistische Reihe Platanen gepflanzt, kleine Setzlinge, geschützt von Plastikringen rund um den Stamm. Einer war bereits entwurzelt, ein anderer abgeknickt.
Von Hampstead nach Archway
Der Teil der Hampstead Heath, wo die Hauptstraße direkt hindurchführt und der Gehweg verschwindet. Es war dunkel und nieselte leicht. Sie gingen hintereinander am Straßenrand entlang. Natalie spürte von rechts die Autos dicht neben sich und von links dornige Sträucher und Gestrüpp. Nathan war durch Kapuze und Kappe geschützt. Ihr eigenes zum halb aufgelösten Zopf geflochtenes Haar war nass bis auf die Kopfhaut. Hin und wieder rief er eine Warnung über die Schulter. Halt dich links. Hundekacke. Hier wird’s glitschig. Sie hätte sich keinen besseren Begleiter wünschen können.
Der Regen wurde stärker. Sie blieben im Eingang eines Pubs stehen, Jack Straw’s Castle.
Die Schuhe sind echt krass.
Das sind keine Schuhe, sondern Hausschuhe.
Echt krass.
Was ist denn so
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