London NW: Roman (German Edition)
Haustür hinter sich. Vom Erkerfenster aus fragte Frank De Angelis seine Frau, Natalie Blake, was sie vorhabe. Was sie eigentlich vorhabe. Was zum Teufel sie eigentlich vorhabe. »Nichts«, sagte Natalie Blake.
Kreuzungen
Von der Willesden Lane zur Kilburn High Road
Sie bog links ab. Ging bis zum Ende der Straße und weiter bis zum Ende der nächsten. Entfernte sich rasch vom Queen’s Park. Sie ging dorthin, wo Willesden an Kilburn grenzt. Vorbei an Leahs Haus, dann an Caldwell. In der alten Wohnung stand das Küchenfenster offen. Ein Bettbezug – verziert mit dem Logo eines Fußballklubs – hing zum Trocknen über der Balkonbrüstung. Ohne darauf zu achten, wohin sie ging, stieg sie den Hügel hinauf, der in Willesden beginnt und in Highgate endet. Sie gab ein sonderbares Jaulen von sich, wie ein Fuchs. Als sie die Straße überquerte, schoss ein Bus der Linie 98 jählings an ihr vorbei – es sah aus, als würde er kippen –, und anfangs schien er die Quelle des seltsamen rot-blauen Lichts zu sein, das auf den weißen Zebrastreifen fiel. Dann sah sie den Polizeiwagen, der dahinter geparkt stand und sein Signallicht tonlos leuchten ließ. Ein ganzes Polizeiwagenaufgebot, rechtwinklig zueinander geparkt, das die Albert Road für den Autoverkehr sperrte. Auf der zugänglichen Seite der Absperrung hatte sich bereits eine kleine Menschenmenge gebildet, und ein großer Polizist mit Turban stand mittendrin und beantwortete Fragen. Aber ich wohne hier in der Albert Road, rief eine junge Frau. Sie hielt in jeder Hand zu viele Einkaufstüten, weitere baumelten an beiden Handgelenken und schnitten ihr ins Fleisch. Welche Nummer, fragte der Polizist. Die Frau sagte es ihm. Sie müssen außenrum gehen. Auf der anderen Seite finden Sie Beamte, die Sie zu Ihrem Haus begleiten werden. Herrgott noch mal, sagte die Frau, ging dann aber doch in die angegebene Richtung. Kann ich hier nicht durch, fragte Natalie. Ein Zwischenfall, sagte der Beamte. Er musterte sie. Weites T-Shirt, Leggings und schmutzige rote Hausschuhe, wie ein Junkie. Er sah auf die Uhr. Es ist jetzt acht. Die Straße bleibt mindestens noch eine Stunde gesperrt. Sie versuchte, sich auf die Zehenspitzen zu stellen und an ihm vorbeizuschauen. Aber sie sah nur noch mehr Polizisten und weiter links weiße Zeltplanen, auf dem Gehsteig gegenüber der Bushaltestelle. Was denn für ein Zwischenfall? Er gab keine Antwort. Sie war ja niemand. Sie war keine Antwort wert. Ein Junge mit einem BMX -Rad meinte: Hat’s wohl wieder einen erwischt, was.
Sie drehte sich um und ging zurück in Richtung Caldwell. Gehen war jetzt ihre Aufgabe, Gehen ihr ganzes Sein. Sie war nicht mehr und nicht weniger als das Gehen an sich. Sie hatte keinen Namen mehr, keine Geschichte, keine Eigenschaften. Das alles hatte sich ins Paradoxe geflüchtet. Gewisse Körpererinnerungen blieben. Sie spürte, wie geschwollen die Haut um ihre Augen war, dass ihr der Hals wehtat vom Brüllen und vom Jaulen. Sie hatte einen Abdruck am Handgelenk, wo sie sehr fest gepackt worden war. Sie griff sich mit der Hand ins Haar und wusste, dass es wirr in alle Richtungen abstand und dass sie sich mitten im Streit ein Büschel davon ausgerissen hatte, über der rechten Schläfe. Dann war sie an der Außenmauer von Caldwell. Sie ging die ganze hintere Mauer entlang, den Blick nach unten auf den Grünstreifen gerichtet, der aus der tiefen Mulde bis zur Straße hinaufreicht. Sie ging die Mauer ab von einem Ende zum anderen und wieder zurück. Schien eine Lücke im Mauerwerk zu suchen. Immer wieder überprüfte sie dasselbe Stück. Als sie gerade das Knie zum Klettern beugte, rief eine Männerstimme nach ihr.
Keisha Blake.
Auf der anderen Straßenseite, links von ihr. Er stand unter einer Kastanie, die Hände tief in den Taschen seines Hoodies vergraben.
Keisha Blake. Warte.
Er lief über die Straße auf sie zu und machte dabei fahrige Bewegungen: die Hand an der Nase, am Ohr, am Nacken.
Nathan.
Willst du den Ausbruch rückgängig machen?
Er schwang sich auf die Mauer.
Ich weiß nicht, was ich hier will.
Und fragt mich nicht mal, wie’s mir geht. Das nenn ich kaltschnäuzig.
Er ging in die Hocke und sah ihr ins Gesicht.
Siehst nicht gut aus, Keisha. Gib mir die Hand.
Natalie kreuzte die Handgelenke. Nathan betrachtete ihre zitternden Hände. Er zog sie hoch. Gemeinsam sprangen sie auf der anderen Seite hinunter und landeten leichtfüßig im Gebüsch. Er richtete sich auf und sah über die Schulter zur
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