London NW: Roman (German Edition)
rechts, doch da war kein Ausweg. Wobei, Jayden vielleicht? Wieder stockte sie. Wobei, Jayden vielleicht was?
Wie viel Uhr ist es, Keisha?
Keine Ahnung.
Ich hätt schon ewig hier abhauen sollten. Manchmal kapier ich mich echt nicht. Wer hält mich denn? Kein Mensch. Nach Dalston hätt ich gehen sollen. Zu spät jetzt.
Hinter einem geparkten Taxi tauchte ein etwa neunjähriger Junge auf, der freihändig Fahrrad fuhr, äußerst langsam und geschickt. Ihm folgten zwei weitere Jungen um die sechs und ein vielleicht vierjähriges Mädchen. Sie hatten die länglichen Gesichter und die Mandelaugen, die Natalie mit Somaliern verband, und ihre Langeweile war ihr vertraut, sie erinnerte sich daran. Das Mädchen kickte eine verbeulte Büchse vor sich her. Einer der Jungen hielt einen langen Ast locker in der Hand, mit dem er alles streifte, was ihm in den Weg kam. Sie starrten sie an, als sie vorbeigingen, und sagten etwas in ihrer Sprache. Der Ast geriet Nathan in den Weg. Er musste nur hinschauen, schon hob der Junge ihn langsam hoch über ihre Köpfe und aus dem Weg.
Was machen wir? Nathan? Was machen wir hier?
Wir latschen. Nach Norden.
Oh.
Da willst du doch hin, oder?
Ja.
Es besteht ein Zusammenhang zwischen Langeweile und der Sehnsucht nach Chaos. Vielleicht hatte sie ja nie aufgehört, sich nach Chaos zu sehnen, trotz der vielen Masken und Verschleierungen.
Hast du Musik, Keisha?
Was?
Wir sollten zu dir zurückgehen, bisschen Musik holen. LOCKE !
Er schrie es und deutete darauf, als hätte er das Haus durch Benennen erst ins Dasein gerufen.
Keisha, sag mir ’n paar Leute aus Locke.
Leah Hanwell. John-Michael. Tina Haynes. Rodney Banks.
Durch die Mühen des Benennens musste Natalie sich an Ort und Stelle hinsetzen. Sie ließ sich zurücksinken und legte den Kopf auf den Boden, bis der Mond alles war, was sie sah, und alles, was sie dachte.
Rodney hab ich gesehen – vor ’ner Ewigkeit in Wembley. Da hat er jetzt ’ne Reinigung. Verdient gut. Aber Rodney ist in Ordnung, der ist noch normal geblieben. Hat mit mir geredet. Manche Leute tun ja so, als würden sie einen nicht kennen. Steh auf, Keisha.
Natalie stützte sich auf die Ellbogen, um ihn anzusehen. Sie hatte seit Jahrzehnten nicht mehr auf einem Bürgersteig gelegen.
Los komm, hoch mit dir. Erzähl mir was. Wie früher. Los, Mann.
Zum zweiten Mal an diesem Abend kreuzte sie die Handgelenke und fühlte, wie sie hochgehoben wurde, als wäre sie kaum vorhanden, fast ein Nichts.
Leah. Die war besessen von dir. Total besessen.
Weiß ich. Aber da gab’s andere Sachen. Voll gut mit Zahlen.
Leah?
Ich, Mann! Ich war voll gut! Du weißt das noch. Die meisten kennen mich nicht von damals. Du weißt das noch. Ständig hab ich diese Goldsterne gekriegt.
Du warst in allem voll gut. Das weiß ich noch. Du hattest sogar ein Testspiel.
Korrekt. Bei den Queens Park Rangers. Alle sagen, sie hätten ’n Testspiel gehabt. Ich hatte echt eins.
Weiß ich. Hat deine Mutter meiner Mutter erzählt.
Sehnenschwäche. Hab trotzdem weitergespielt. Keiner hat’s mir gesagt. Da wär vieles anders gekommen, Keisha. Vieles. Aber so ist das eben. Vorbei. Ich denk nicht mehr gern an die Zeit, wenn ich ehrlich bin. Letztendlich steh ich doch wieder hier auf der Straße und schlag mich durch. Reiß mir Tag für Tag ein Bein aus. Bisschen Geld verdienen. Ich hab ’ne Menge Scheiß gemacht, Keisha, das streit ich gar nicht ab. Aber du weißt, dass ich eigentlich nicht so bin. Du kennst mich von früher.
Er schlug nach drei Bierdosen, die klappernd ins Gras fielen. Sie hatten das Ende der Nostalgie erreicht. Hier war die Außenmauer teilweise zerstört – es sah aus, als hätte sie jemand mit bloßen Händen auseinandergepflückt, Stein für Stein. Sie gingen über die Straße, am Basketballfeld vorbei. In der hintersten Ecke standen vier schattenhafte Gestalten, deren Zigaretten im Dunkeln glommen. Nathan hob grüßend die Hand. Die Männer grüßten zurück.
Bleib mal stehen. Ich rauch den jetzt.
Okay, ich auch.
Er drehte sich zu dem hohen Eisentor des Friedhofs. Er zog den Selbstgedrehten hinter dem Ohr hervor, und sie ließen den Joint hin und her gehen und bliesen den Rauch durch die Gitterstäbe. Das, was in den Tabak hineingemischt war, schmeckte bitter. Natalies Unterlippe wurde taub. Ihre Schädeldecke fiel ab. Ihr Mund wurde steif und träge. Es war mühsam, Gedanken in Laute zu übertragen oder zu entscheiden, welche Gedanken überhaupt zu Lauten werden
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