London NW: Roman (German Edition)
Titelseite der Mail! Heute ist es nur Brent, morgen vielleicht schon ganz Großbritannien! Was sich manche Leute rausnehmen. So eine Frechheit.
Leah starrt auf ein Bindi ihr gegenüber, bis es verschwimmt, gewaltig anschwillt und ihr ganzes Blickfeld einnimmt, sodass sie glaubt, in diesen Punkt einzudringen, ihn zu durchqueren und dadurch in ein freundlicheres Universum parallel zu unserem zu gelangen, wo die Menschen einander durch und durch kennen, wo es keine Zeit gibt und keinen Tod und keine Angst und keine Sofas und kein
– sicher nicht immer einer Meinung, aber er liebt dich. Und du liebst ihn. Ihr solltet euch beeilen. Der Bezirk hat euch doch sehr gut untergebracht, ein kleines Auto habt ihr auch, feste Stellen. Das ist jetzt einfach der nächste Schritt.
Du bist die Nächste. Das ist der nächste Schritt. Nächster Halt Kilburn Station. Die Türen falten sich nach innen, ein Großstadtinsekt, das seine Flügel anlegt. Ein verschleiertes Mädchen mit Handy am Ohr steigt ein, als sie aussteigen, und stört den Redefluss mit ihrem Lachen, ihren weggelassenen Hs und ihrer Schminke, aber Pauline wird so oder so zwangsläufig sagen, was sie immer sagt, elegant variiert, je nach aktueller Nachrichtenlage.
– Da brauchen sich nur zwei zu küssen, also, in Dubai – und kriegen beide zwölf Jahre. So was ist da einfach nicht erlaubt. Wirklich ein Elend.
Doch dieses Elend wird sofort von einem anderen, näherliegenden Elend überlagert. Vor den Fahrkartenautomaten eine abgerissene junge Frau und ein hochgewachsener Typ, die den Affen schieben. Pauline flüstert Leah ins Ohr.
– Ich bin wirklich dankbar, dass ich keine Kinder habe, die so was tun.
In rascher Abfolge schießen Leah vergangene Freuden durch den Kopf, und die Erinnerung daran ist fast unerträglich lustvoll: Schnee und Braunes, biogen und synthetisch, Pillen und Pulver.
– Ich weiß wirklich nicht, was daran komisch sein soll. Ach, ich kann einfach nicht fassen, dass ich die Karte daheim gelassen habe. Ich habe sie sonst immer in dieser Tasche.
– Ich habe über was anderes gelacht.
Tageskartetageskartetageskarte.
– Was sagt das arme Ding?
– Ich glaube, sie wollen ihre Tageskarten verkaufen.
Ein Elend, aber auch eine Möglichkeit, Geld zu sparen. Pauline reckt sich und tippt dem Mann auf die Schulter.
– Wie viele Zonen? Und wie viel wollen Sie dafür?
– Tageskarte für heute. Sechs Zonen. Zwei Pfund.
– Zwei Pfund! Und woher weiß ich, dass die echt ist?
– Mum! Da steht doch das Datum drauf, Herrgott!
– Ich zahle ein Pfund, mehr nicht.
– Geht klar, Mrs Hanwell.
Blick nach oben. Eine Art holprige Zeitreise in zwei Richtungen: das Kind mit diesem Mann überblenden, den Mann mit dem Kind. Vertraut das eine, fremd der andere. Der Mann hat einen zotteligen Afro, eine kleine graue Feder steckt darin. Die Kleider zerlumpt. Ein großer Zeh bohrt sich durch die krümelige Gummisohle eines uralten, rot gestreiften Nike Air. Das Gesicht viel älter, als es sein dürfte, selbst angesichts des rabiaten Umgangs der Zeit mit menschlichem Rohmaterial. Hinten am Nacken hat er einen komischen weißen Fleck. Und doch tut das seiner Schönheitslinie keinen Abbruch.
– Nathan?
– Tag, Mrs Hanwell.
Es tut gut, Pauline fassungslos zu sehen, die schweißnassen Haarspitzen, die sich um ihr Gesicht ringeln.
– Ja, wie geht’s dir denn, Nathan?
– Man schlägt sich so durch.
Zittern. Ein tiefer Schnitt an der Wange, der noch nicht alt sein kann. Trotzdem ein offenes, aufrichtiges Gesicht. Ohne jede Heuchelei. Was es nur noch schlimmer macht.
– Wie geht es deiner Mutter, deinen Schwestern? Du erinnerst dich doch sicher noch an Leah. Sie ist jetzt verheiratet.
– Ach was. Das ist ja schön.
Er lächelt Leah schüchtern an. Mit zehn hatte er ein Lächeln! Nathan Bogle: der wahre Inbegriff des Begehrens für Mädchen, die dieses Gefühl bis dahin allenfalls mit bestimmten Duftradiergummis verbanden. Ein Lächeln, das die Entschlossenheit selbst der strengsten Lehrer und Eltern ins Wanken bringen konnte. Mit zehn hätte sie alles, alles darum gegeben! Heute sieht sie Zehnjährige und kann nicht fassen, dass sie all das in sich verbergen, was sie in dem Alter in sich barg.
– Lange her.
– O ja.
Deutlich länger für ihn. Etwa einmal im Jahr sieht sie ihn auf der High Road. Dann verschwindet sie in einem Laden oder überquert die Straße, steigt in einen Bus. Jetzt fehlt ihm ein Zahn hier und dort und da. Verwüstete Augen.
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