London NW: Roman (German Edition)
Kram?
– Dafür brauche ich ja den Rechner.
– Leah, ich sag dir Bescheid, wenn ich fertig bin.
Terminhandel. Ausschöpfen der Volatilität. Sie versteht nur etwas von Wörtern, nicht von Zahlen. Die Wörter klingen bedrohlich. Dazu dieser Blick, den Michel gerade hat, geballte Aufmerksamkeit. Die innere Zeitrechnung dehnt sich und steht still, ohne irgendein Gefühl für die Minuten und Stunden, die draußen vergehen. Noch fünf Minuten! Das antwortet er jedes Mal gereizt, egal, ob nun dreißig vergangen sind oder hundert oder zweihundert. Pornos haben dieselbe Wirkung. Und Kunst, heißt es zumindest.
Leah bleibt in der dunklen Kammer hinter Michel stehen. Das bläuliche Schimmern des Bildschirms. Er ist einen halben Meter von ihr entfernt. Er ist am anderen Ende der Welt. Warum machst du nicht so lange deinen eigenen Kram?
Sie hat die Vorstellung, dass sie schon seit Wochen Unmengen von Dingen vor sich herschiebt, und jetzt wird sie das alles erledigen, mit der Lichtgeschwindigkeit eines Zeitraffers, wie im Mittelteil eines Films. Im Wohnzimmer läuft der Fernseher. Noch mehr bläuliches Licht im Flur. In der Kammer spielt der Rechner zornigen Hip-Hop, ein Zeichen, dass es nicht besonders gut läuft. Manchmal fragt sie ihn: Ist es weg? Dann wird er wütend, sagt, so läuft das nicht. An manchen Tagen verliere ich, an manchen Tagen gewinne ich. Aber wie kann er bloß immer und immer wieder dieselben achttausend Pfund gewinnen und verlieren? Leahs einziges Erbe von Hanwell, ihre einzigen Ersparnisse. Das Geld an sich ist nur noch Idee, eine Idee, die Hanwell, der Materialist, der sein ganzes Geld in Scheinen aufbewahrte, in einem Schuhkarton in der Mahagonianrichte, niemals begriffen hätte. Leah begreift sie genauso wenig. Sie setzt sich auf einen Stuhl in die offene Tür zwischen Küche und Garten. Die Zehen im Gras. Am Himmel ist es leer und still. Von der Sendung im Radio nebenan schwappt Entrüstung herüber: Zweiundfünfzig Stunden hat die Rückreise von Singapur gedauert! Eine neue alte Lektion über die Zeit. Brokkoli kommt aus Kenia. Blutkonserven müssen transportiert werden. Soldaten brauchen Nachschub. Das Gros des besseren Teils von NW ist über Ostern in den Urlaub gefahren, mitsamt den lieben Kleinen. Vielleicht kommen sie ja nie mehr zurück. Ein Gedanke, auf dem man sich davontreiben lassen kann.
Ned scheppert die schmiedeeisernen Stufen hinunter, schaut zum Himmel.
– Echt abgefahren.
– Mir gefällt’s. Ich mag die Stille.
– Also, mich macht das fertig. Wie in Cocoon.
– Ach was.
– Die ganze Stadt ist leer. Arbus in der Portrait Gallery, und kein Mensch da. Wahnsinn! Echt ’ne Erfahrung.
Leah überlässt sich Neds ausführlicher, aufgeregter Schilderung. Sie beneidet ihn um seine Begeisterung für die Stadt. Er schlägt sich die Zeit nicht mit seinen Exlandsleuten in den Vorortenklaven um die Ohren, kippt Bier oder guckt Rugby: Er meidet sie, wo er kann. Bewundernswert. Allein die Stadt erkunden, Musik-Gigs und Vorträge und Filmvorführungen und Ausstellungen entdecken, abgelegene Parks und geheime Strandbäder. Leah, die Alteingesessene, geht nie irgendwohin.
– und letztlich um die Integrität von so was wie, wie, wie einer Idee? Hat mich echt umgehauen. Na ja. Ich bin am Verhungern. Ich geh jetzt hoch und mach mir Pasta mit Pesto. Aber ich lass dir ein paar hier, dann bist du versorgt.
Er legt drei aufs Fensterbrett, fertig gedreht. Sie betrachtet sie, aufgereiht in ihrer Handfläche. Den ersten raucht sie schnell weg, bis auf den orangen Pappfilter. Olive jagt Raschellaute durchs Halbdunkel. Dann den zweiten. Oben sind die Fenster offen: Gloria keift ihre Kinder an. Nie hört ihr zu! Hab ich vielleicht den ganzen Tag Zeit, euch immer alles zweimal zu sagen? Leah ruft Olive, und sie kommt herangehoppelt. Leah umfängt sie mit beiden Armen. Haut wie Fensterleder. Zarter kleiner Rippenbogen mit einer Lücke für jeden Finger. Es ist nicht richtig, einen Hund so zu lieben, meint Michel, der schon Hühnern den Hals umgedreht, einer Ziege die Kehle durchgeschnitten hat. Olives Kehle in Leahs Händen – könnte man ein Kind zärtlicher halten? Seit Olive ist es leicht zu glauben, dass Tiere Gefühle haben. Selbst die luftbläschenproduzierenden Krabben beim Fischhändler haben plötzlich etwas Tragisches. Trotzdem isst sie sie alle, immer noch. Was für ein Monster sie ist. Pass auf, ja, sonst komm ich rüber und knall dir eine! Sie raucht den dritten.
Erst wird es langsam
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