London NW: Roman (German Edition)
Was weiß sein müsste, ist gelb. Rote Äderchen überall.
– Da hast du dein Pfund. Pass gut auf dich auf, ja? Und grüß deine Mutter von mir.
Rasch durch die Absperrung, sie stoßen in der Hektik aneinander, und schnell die Treppe hinauf.
– Das war ja schlimm.
– Seine arme Mutter! Vielleicht schaue ich die Tage mal bei ihr vorbei. Was für ein Elend. Ich hatte ja davon gehört, aber es mit eigenen Augen zu sehen ...
Die U-Bahn kommt, und Leah sieht zu, wie Pauline ihr gelassen entgegenblickt und bis an den gelben Sicherheitsstreifen vortritt. Dieses Pauline’sche Reich – das Reich des Elends – ist beständig und unausweichlich, so wie ein Hurrikan oder ein Tsunami. Es ist keine konkrete Angst damit verbunden. Normalerweise ist das auszuhalten; heute erscheint es widerwärtig. Das Elend ist viel zu weit weg von Paulines eigener Welt, die einfach nur enttäuschend ist. Es lässt die Enttäuschung als Segen erscheinen. Wahrscheinlich sind Nachrichten aus der Welt des Elends deshalb so willkommen, so befriedigend.
– Du hast so für ihn geschwärmt, das weiß ich noch. Später war er dann mal ein paar Jahre im Kittchen. Aber er hat nicht diesen Mord begangen, nein, das war jemand anders. War er nicht mal in der Geschlossenen? Eine Zeit lang? Seinen Vater hat er windelweich geprügelt, da bin ich mir sicher. Wobei der Kerl es auch nicht anders verdient hatte.
Als die Bahn anfährt, nimmt Leah zwei Gratiszeitungen von einem Stapel, weil Lesen Schweigen heißt.
Sie versucht, sich auf einen Artikel zu konzentrieren. Es geht um eine Schauspielerin, die ihren Hund im Park spazieren führt. Aber Pauline will einen anderen Artikel lesen, über einen Mann, der nicht war, was er zu sein vorgab, und reden will sie darüber auch.
– Na, das haben sie jetzt von ihrer Unfehlbarkeit! Über unseren Verein kann man ja alles Mögliche sagen, aber immerhin behaupten wir nicht, wir wären unfehlbar. Von wegen Gottesmänner! Diese armen Kinder. Gestört fürs Leben. Und so was schimpft sich dann Religion! Na, hoffen wir mal, dass die Sache jetzt ein für alle Mal ein Ende hat.
Weil der ganze Waggon mithört, sieht Leah sich zu einer sanften Verteidigung veranlasst, in Gedenken an den Duft von Weihrauch, die üppigen Putten, den goldenen Strahlenkranz, den kalten Marmorboden, geschnitztes Flechtwerk aus dunklem Holz, Frauen kniend und flüsternd und Kerzen entzündend, auf der InterRail-Tour neunzehnhundertdreiundneunzig.
– Ich wünschte, wir hätten die Beichte. Ich würde gerne beichten.
– Ach, Leah, werd endlich erwachsen!
Pauline blättert energisch die Seite um. Das Fenster dokumentiert die Skyline von Kilburn. Unsaniert, unsanierbar. Hier ist von Booms und Pleiten nichts zu spüren. Hier ist die Pleite Dauerzustand. Das leere State Empire, das leere Odeon, graffitiverschmierte Gleisverkleidungen, die auftauchen und verschwinden wie klapprige Achterbahnen. Kunterbunt durchmischte Dächer und Schornsteine, manche hoch, manche niedrig, dicht an dicht, wie in der Schachtel hochgeklopfte Kippen. Hinter dem Fenster gegenüber Willesden auf dem Rückzug. Nummer 37. Um 1880 herum wurde das alles in einem Rutsch hochgezogen – Häuser, Kirchen, Schulen, Friedhöfe – die optimistische Vision von Metro-Land. Kleine Reihenhäuser, Prachtbauten im Pseudo-Tudor-Stil. Alles nur vom Feinsten! Toiletten im Haus, heißes Wasser. Komfortables Landleben für Leute, die die Stadt satthatten. Vorgespult. Unkomfortables Stadtleben für Leute, die ihr Land satthaben.
– Aus-brei-tung von Vul-kan-asche?
Pauline artikuliert sorgfältig jede einzelne Silbe, als zweifelte sie an ihrem Wahrheitsgehalt, und hält ihrer Tochter das Foto zu dicht vor die Nase. Leah kann nur einen gewaltigen grauen Wirbel erkennen. Vielleicht ist da aber auch nicht mehr zu sehen. Das Szenepärchen gegenüber diskutiert die Sache ebenfalls. Gaias Rache , sagt das Mädchen zum Jungen. Wenn man nur lange genug austeilt, kriegt man’s irgendwann zurück . Pauline, die keine Möglichkeit zum Gruppengespräch auslässt, beugt sich vor.
– Kein Obst und Gemüse mehr in den Läden, heißt es. Leuchtet ja auch ein, wenn man mal überlegt. Wir leben hier schließlich auf einer Insel. Das vergesse ich immer wieder, Sie auch?
13
– Bist du fertig am Rechner?
– Ich muss noch warten, bis sie schließen.
– Es ist schon fast sieben. Ich muss da jetzt auch mal ran.
– Im Netz gibt es kein sieben. Warum machst du nicht so lange deinen eigenen
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