London NW: Roman (German Edition)
dunkel, dann urplötzlich. Lichterketten, studentenmäßig im Apfelbaum. Kontaktlinsen, so trocken, dass sie kaum noch etwas sieht. Hinter dem Baum der Zaun, die Schienen, Willesden. Nummer 37. Aus dieser Richtung kommt ihr Vater auf sie zu. Bei Neds verkümmertem Rosenstrauch bleibt er stehen. Er hat einen Hut auf.
Wie geht’s denn deinem Hündchen, fragt er.
Leah stellt fest, dass sie antworten kann, ohne den Mund zu öffnen. Sie erzählt ihm alles, was Olive erlebt hat, seit er letzten November gestorben ist, jede Kleinigkeit, all die vielen Kleinigkeiten! Noch das dümmste Detail aus ihrem Hundealltag findet er lustig. Er sagt ach je ach je, wischt sich ein paar Krümel von der ausgeleierten blauen Wolljacke und lacht in sich hinein. Er ist genauso angezogen, wie sie ihn in Morehurst angezogen haben, bis auf diesen Trilby – das einzige Wort, das Leah für solche altmodischen Hüte kennt –, den hat sie noch nie gesehen. Am Oberschenkel hat er einen weißen Fleck, wie Sperma, klebrig in einer Ritze der verschlissenen braunen Cordhose, die zu säubern kein Mensch für nötig hielt. Diese hübschen Pflegerinnen aus der Ukraine, die nie lange blieben.
Da drüben gibt’s nichts anderes als diese scheiß Füchse, sagt Hanwell trübsinnig.
Die sind tatsächlich eine Plage. Es gab zwar immer schon genauso viele wie jetzt, aber jetzt bezeichnet man das eben als Plage. Neulich erst die Schlagzeile im Standard: FUCHSPLAGE IM NORDWESTEN , dazu das Foto eines Mannes, der im Garten kniet, umgeben von den Kadavern der von ihm erschossenen Füchse. Dutzende und Aberdutzende. Dutzende und Aberdutzende, sagt Leah, so leben wir heutzutage, müssen unser kleines Fleckchen Erde verteidigen, früher war das nicht so, aber jetzt ist alles anders, nicht, so heißt es doch immer, jetzt ist alles anders. Colin Hanwell gibt sich Mühe, ihr zuzuhören. Eigentlich interessiert er sich nicht sonderlich für Füchse und das, wofür sie stehen.
Na, ich kann verstehen, wie sie draufkommen, sagt Hanwell.
Was?
Ich meine, ich kann verstehen, wie sie auf den Gedanken gekommen sind, so wie du daherredest.
Was?
Wenn du mir sagst, du bist glücklich, sagt Hanwell, dann bist du glücklich, und damit hat sich das.
Das Gespräch wendet sich anderen Themen zu. Nie kriegt man die eigene Bettwäsche aus der Wäscherei zurück. Das Wichtigste ist doch, dass Köchin Maureen die weizenfreie Tiefkühllasagne akzeptiert und man die dann essen darf, während bei den anderen keiner auf Diätvorschriften achtet und sie anschließend Blut scheißen und Krampfanfälle kriegen oder Schluckauf, der nicht mehr weggeht. Ja, räumt Leah ein, ja, Dad, mag sein. Mag sein, dass Blutscheißen schlimmer ist als Symbole und Elend und die globale Gesamtsituation. So kannst du mit Ärzten aber nicht reden, flüstert Hanwell, nachher hört dich noch einer, man weiß nie genau, wann die kommen. Man kann nur beten, dass sie’s tun.
Leah hat zunehmend das Gefühl, die Oberhand zu gewinnen und den Rest der Begegnung nach ihren Wünschen gestalten zu können. Sie lässt ihren Vater Dinge sagen, dirigiert ihn, bewegt seine Arme und steuert seine Mimik, erst harmlos und dann ganz bewusst, sodass er sagt: Ich hab dich lieb, weißt du. Und dann: Liebes, ich hab dich immer lieb gehabt, das weißt du doch. Und: Ich hab dich lieb mach dir keine Sorgen es ist schön hier. Und sogar: Ich sehe ein Licht. Nach einiger Zeit wirkt das merkwürdig an ihm, und Leah schämt sich und lässt es wieder. Trotzdem bleibt er und hält damit die verführerische Aussicht auf Wahnsinn aufrecht, was für ein wunderbarer Luxus. Wenn sie nicht in ihr Alltagsleben zurückmüsste mit Behörden und Mieten und Mann und Job, könnte sie einfach durchdrehen! Warum nicht einfach durchdrehen!
Und denk dran: Immer schön das Gartentor mit dem Wasserdruck verschließen wo das Gas heiß im Backofen ist von dem Schalter zum Abstellen und dann lässt du es einfach nur mit roten Zwiebeln und einer Prise Zimt und bist zurück bevor du ein Minicab brauchst – und zwar ohne Alkohol, rät Hanwell.
Sie kann ihn nicht dazu bringen, näher zu kommen. Trotzdem ist es, als läge seine Hand in ihrer und seine Wange an ihrer und Leah küsst seine Hand und spürt seine Tränen am Ohr, weil er doch immer so ein rührseliger alter Trottel war. Sie drückt seine Hand mit ihren beiden Händen. Sie sind herbstlich trocken. Sie spürt die fleischige Beule der hartnäckigen Wunde mitten in der Handfläche, immer noch nicht
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