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London NW: Roman (German Edition)

London NW: Roman (German Edition)

Titel: London NW: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zadie Smith
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gesichtet wird. Es ist jetzt drei Wochen her. Shar lässt den Hörer los und will über die Straße. Der Verkehr ist stoßzeitheftig. Erst ist Leah froh, dass Michel nicht dabei ist. Dann verwandelt sich ihr Gesicht in seines, und seine Stimme kommt aus ihrer Kehle, vielleicht ist das aber auch nur eine eheliche Ausrede, und es ist ihre eigene Stimme, die aus ihrer Kehle kommt:
    – Und, bist du stolz auf dich? Diebin! Ich will mein Geld zurück!
    Shar duckt sich und schlüpft zwischen den Autos durch. Sie rennt auf zwei Männer zu, die in einem Hauseingang stehen, groß, die Gesichter von Kapuzen verdeckt. Shar schlingt sich um den Größeren. Leah hastet heim. Hinter ihr schlagen unverständliche Beschimpfungen ein, die auf sie zielen, ein Jargon wie ein Maschinengewehr.

37
    Vor Jahren, im Bett, neben einer geliebten Freundin, besprachen sie die Zahl 37. Dylan sang dazu. Die Freundin hatte die Theorie, dass die 37 einen Zauber besitzt, der uns einfach zu ihr zieht. Ganze Webseiten widmen sich dem Phänomen. Die Fantasiehäuser im Kino, im Roman, auf Gemälden und im Gedicht: fast immer Nummer 37. Die Zahl, die man willkürlich auswählen soll: meistens 37. Achte auf die 37, sagte die Freundin, beim Lotto, im Fernsehquiz, in unseren Träumen und unseren Witzen, und das tat Leah, das tut Leah heute noch. Remember me to one who lives there. She once was a true love of mine. Die Freundin ist jetzt auch verheiratet.
    Das Haus Ridley Avenue 37 ist besetzt. Wird besetzt? Die Haustür ist verrammelt. Ein Fenster eingeschlagen. Hinter zerrissenen grauen Vorhängen dringt Menschenlärm nach draußen. Leah schleicht aus dem Schatten der Hecke bis auf den Hof. Niemand sieht sie. Nichts passiert. Sie bleibt stehen, einen Fuß knapp über dem Boden. Was sie alles anfangen könnte mit 37 Leben! Sie hat ein Leben: Sie ist unterwegs zu ihrer Mutter, sie wollen ein Sofa kaufen gehen. Wenn sie noch lange hier rumsteht und glotzt, kommt sie zu spät. Im Erkerfenster vorn: Mickey, Donald, Bart, ein namenloser Bär, ein Elefant mit abgerissenem Rüssel. Stofffratzen hinter schmutziger Scheibe.

12
    – Das hat ja gedauert. Geht’s dir gut? Ein bisschen schmal siehst du aus. Wir nehmen doch die Jubilee, oder?
    Pauline kommt rückwärts aus der Haustür, einen Einkaufsrolli mit Schottenmuster im Schlepptau. Jedes Mal ein wenig älter als erwartet. Und kleiner. Von der Straße aus muss es wie der Inbegriff menschlicher Perfektionierung wirken: jede Generation eine Veredelung der vorherigen. Fitter, gesünder, produktiver. Aus der Eule erhebt sich der Phönix. Aber erhebt er sich nur, um wieder zu fallen? Wird immer länger, bis es wieder kürzer wird.
    – Ich mache mir Sorgen um dich. Du wirkst ganz mitgenommen.
    – Mir geht’s bestens.
    – Und wenn nicht, würdest du es mir auch nicht sagen.
    Was gibt es schon zu sagen? Immer noch auf der Suche nach ihr, fast einen Monat später. Immer darauf gefasst, dass sie aus diesem Laden kommt, hinter dieser Ecke auftaucht, an dieser Telefonzelle. Das abwesende Mädchen ist für Leah realer als das kaum beachtenswerte Bäuchlein, das sie ständig bei sich hat, auch wenn es unter dem Sweatshirt verschwindet.
    – Ich schwitze schon wieder wie ein Schwein, dabei habe ich nur eine Bluse an. Das ist doch nicht normal.
    Der Hindutempel hat die gleichen Farben wie Fürst-Pückler-Eis und im Wesentlichen auch die gleiche Form. Eine Packung Fürst-Pückler-Eis mit zwei umgedrehten Waffelhörnchen an jeder Seite. Alte Hindus strömen die Stufen hinab, trauen der Schönwetterwelle nicht. Sie tragen Pullover zu ihren Saris, Jacken und warme Wollsocken. Sie sehen aus, als wären sie zu Fuß von Delhi bis nach Willesden gekommen und hätten auf dem Weg nach Norden immer weitere Wollschichten angelegt. Jetzt streben sie geschlossen zur nächsten Bushaltestelle, und die Menge schluckt Leah und ihre Mutter und trägt sie mit sich fort.
    – Das ist doch günstig. Wir nehmen den Bus. Das spart Zeit.
    – Wer mit über dreißig noch den Bus nimmt, hat es im Leben zu nichts gebracht.
    – Ach, Schätzchen, jetzt hab ich meine Monatskarte vergessen! Wie war das gerade, Liebes?
    – Margaret Thatcher. Damals.
    – Einmal bis Kilburn, bitte. Zwei Pfund! Das war ja vielleicht eine Ziege! Du kannst dich nicht mehr erinnern, aber ich erinnere mich sehr gut. Heute ist es nur Brent, morgen vielleicht schon ganz Großbritannien!
    – Setz dich da hin, Mum. Ich setze mich hierher. Ist ziemlich voll.
    – Auf der

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