London NW: Roman (German Edition)
andere Sachen hart. Leah schaut aus dem Fenster. Der Regen ist rücksichtslos. Die Flugzeuge sind an den Himmel zurückgekehrt. Die Arbeit ist die Arbeit. Die Zeit hat nichts Unheimliches mehr. Sie ist einfach wieder Zeit. Leah hat sich etwas Literatur von der Arbeit mitgenommen, aus dem Literaturschrank. Professionelle Organisationen, die professionelle Hilfe anbieten. »Mehr« kann man nicht tun. Jetzt ist es Zeit, den Süchtigen »seine eigenen Entscheidungen treffen zu lassen«. Denn »man kann niemanden dazu zwingen, sich die nötige Hilfe zu holen«. Alle sagen dasselbe. Alle sagen dasselbe auf dieselbe Weise. Leah steigt an der Willesden Lane aus und geht weiter, so schnell sie kann, aber der Bus würgt den Motor ab, hält hinter ihr. Sie hat das ganze Unterdeck als Publikum, während sie sich über einer Hecke vor der Kirche zusammenkrümmt. Kotze, die hauptsächlich aus Wasser besteht, kaum vom Regen zu unterscheiden. Diese Kirche ihrer Kindheit, wo sie samstags bei den Wölflingen war, ist jetzt zu Luxuswohnungen umgebaut, von denen jede ihren eigenen Anteil an schicken Buntglasfenstern hat. Dort, wo sich früher ein kleiner Friedhof befand, parkt jetzt eine Ansammlung kleiner Sportwagen. Der Bus rumpelt in Richtung High Road davon. Sie richtet sich auf, wischt sich den Mund mit dem Schal. Geht zügig weiter, einen lächerlichen Schirm in der einen Hand, von dem ihr Regen in den rechten Ärmel tropft. Nummer 37. Sie sieht die Faltblätter rasch durch, wie ein braves Mädchen am Briefkasten, das noch einmal das Porto prüft, und schiebt sie hinein.
37
Eigentlich hätte sie sich eine andere Methode gewünscht. Irgendein altes Hausmittelchen, das sich diskret daheim anwenden lässt, unter Verwendung alltäglicher Produkte aus dem Badezimmerschrank. Alles andere wird teuer. Alles andere taucht auf dem gemeinsamen Kontoauszug auf. Im Netz finden sich nur Moralapostel und kein einziger praktischer Hinweis, bis auf die alten Schauermärchen einer vormoralischen Vergangenheit: Ginbäder und Hutnadeln. Wer hat schon Hutnadeln? Stattdessen ist sie nun hier, mit einer alten Kreditkarte aus Studienzeiten. Ein seltsamer Ort. Ein Nicht-Ort. Könnte auch ein Zahnarzt sein, ein Chiropraktiker. Privatpraxen! Weiche Sofas, gläserne Couchtische, Privatsphäre. Keine Klemmbretter. Keiner, der fragt:
a) Unterziehen Sie sich diesem Eingriff aus freier Entscheidung?
b) Haben Sie jemanden, der Sie nach dem Eingriff nach Hause bringt?
Hier fragt nur eine junge Frau, ob sie ein Glas Wasser möchte und wie sie bezahlen will. Sonst nichts. Geld verhindert Beziehungen, Verpflichtungen. Es ist alles ganz anders. Damals, mit neunzehn, hat sich die Uni-Krankenschwester um alles gekümmert. Sie saß mit einer lieben Exgeliebten auf dem Krankenbett, beide im Sommerkleid, mit baumelnden Beinen, wie zwei kleine unartige Mädchen, die sich eigentlich nur dafür interessierten, wie das mit der Narkose funktioniert.
– Ich hab noch gemerkt, er hält mein Handgelenk und zählt, zehn, neun, acht, und im nächsten Moment – also wirklich im nächsten Moment! – war jetzt, und du hast mich auf die Stirn geküsst.
– Das waren zweieinhalb Stunden!
In gewisser Weise eine sehr viel größere Offenbarung als all die verwirrenden Vorlesungen über das Bewusstsein, Descartes und George Berkeley.
Zehn neun acht ...
Das waren zweieinhalb Stunden! Kein Buch hätte sie je so überzeugen können wie dieser Tag. Zehn neun acht ... und weg. So eine Süße! Das hätte sie ja wirklich nicht tun müssen. Ein Vorteil daran, Frauen zu lieben, von Frauen geliebt zu werden: Sie tun immer Dinge, die weit über den Ruf der Pflicht hinausgehen. Zehn neun acht. Und wieder im Leben. Ein Kuss auf die Stirn. Und außerdem ein Kinder-Abziehbild, an der Wand direkt vor ihr. Tigger, Puh und Christopher Robin, alle ohne Kopf. Ein freies Bett auf der Kinderstation? Sie erinnert sich nur an zehn neun acht – diesen schmerzlosen Probetod. Ein nützliches Erlebnis, an das man denken kann, wenn man um sein Leben fürchtet. (In kleinen Flugzeugen, im tiefen Wasser.) Beim ersten Mal war sie im zweiten Monat. Beim zweiten Mal im zweiten Monat plus drei Wochen. Dies ist das dritte Mal.
Die Sprechstundenhilfe hinkt durch den Raum. Knöchel verstaucht, ein schmutzig weißer, flatternder Verband. Leah läuft rot an. Sie schämt sich vor einem gedachten Niemand, den es gar nicht gibt und der trotzdem unsere Gedanken überwacht. Sie ruft sich zur Ordnung. Klar, es ging
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