London NW: Roman (German Edition)
verheilt, weil solche Dinge ab einem gewissen Alter einfach nicht mehr heilen wollen. Bläulich und voller Blut, dabei war es nur eine ganz leichte, unbedeutende Abschürfung, vor vielen, vielen Monaten, an der Kante des Spieltischs im Gemeinschaftsraum. Die Haut hing herunter. Sie haben sie zurückgerollt und mit Pflastern fixiert. Aber trotzdem blieb die Wunde das ganze letzte Jahr hindurch bläulich und voller Blut.
Leah sagt: Geh nicht weg, Dad!
Hanwell sagt: Muss ich denn irgendwohin?
Michel sagt: Der Rechner ist frei!
14
Ein großer Hügel sitzt rittlings über NW , erhebt sich in Hampstead, West Hampstead, Kilburn, Willesden, Brondesbury und Cricklewood. Die literarische Welt ist ihm nicht fremd. Die Frau in Weiß erklimmt ihn auf der einen Seite, um auf der anderen dem Straßenräuber Jack Sheppard zu begegnen. Mitunter verirrt sich selbst Dickens so weit nach Norden und Westen, um ein Pint zu heben oder jemanden unter die Erde zu bringen. Und da, auf dem Teppich der Bibliothek zwischen Science-Fiction und Lokalgeschichte: ein verknotetes, spermagefülltes Kondom. Einst waren hier nur Weiden und Felder, und die Landsitze nickten einander von der Kuppe des Hügels zu. Jetzt sind sie U-Bahn-Stationen gewichen, im Abstand von jeweils einem knappen Kilometer.
Es ist etwas über einen Monat her, seit das Mädchen vor der Tür stand – Ende Mai. Die Kastanien zeigen sich in buschiger Pracht, auch wenn jeder weiß, dass sie von Blattbräune befallen sind. Leah ist auf der Brondesbury zugewandten Seite, geht in der prallen Sonne bergauf, ohne zu ahnen, wer oder was ihr da entgegenkommt. Sie ist so überrumpelt, dass sie sich in ein reflexhaftes Gefühl rettet: Abscheu. Funkelt sie an, so wie man das früher auf dem Schulhof machte. Weil dieser Blick so spät kommt und so dicht vor Shars Gesicht, wirkt er aggressiver als geplant. Wenn Michel nur hier wäre! Aber Michel ist nicht hier. In letzter Sekunde versucht Leah einen Schritt zur Seite, hofft, einfach so vorbeizukommen. Eine kleine Hand packt sie am Handgelenk.
– EY! DU!
Sie hat nichts auf dem Kopf. Dichtes schwarzes Haar strebt ungebändigt in alle Richtungen. Zwischen den verhüllenden Strähnen entdeckt Leah ein katastrophal lila-gelblich-schwarz verfärbtes Auge. Nässe quillt daraus hervor, Tränen oder sonst etwas Unwillkürliches. Leah versucht zu sprechen, stammelt aber nur.
– Was willst du von mir? Was soll ich sagen? Dass ich dich beklaut hab? Ich bin’n Junkie. Ja, ich hab dir Geld geklaut. Alles klar? ALLES KLAR ?
– Lass dir doch helfen, vielleicht kann ich ... es gibt Orte, da kriegt man ... Hilfe.
Leah graust es vor der eigenen Stimme. Wie schwächlich sie klingt! Wie ein bettelndes Kind.
– Ich hab dein Geld nicht, klar? Ich hab ’n Problem. Kapierst du das? ICH HAB GAR NICHTS FÜR DICH ! Ich brauch das nicht, dass ihr mich hier jeden scheiß Tag anmacht, du und deine Sippe. Mit dem Finger zeigt, rumbrüllt. Das halt ich nicht mehr aus, sag ich dir ganz ehrlich. Was willst du von mir? Willst du mich fertigmachen?
– Nein, ich ... Kann ich dir nicht helfen, irgendwie? Kann ich irgendwas tun?
Shar lässt los, zuckt mit den Achseln und dreht sich weg, schwankt, fällt fast hin. Die Augen rollen in ihrem hübschen Kopf nach hinten. Leah streckt die Hand aus, um sie zu stützen. Shar schubst sie grob weg.
– Nimm meine Telefonnummer. Bitte. Ich schreib sie dir auf. Ich arbeite bei, also, ich hab viel mit, mit Wohltätigkeitsorganisationen zu tun, über die Arbeit, du weißt schon, da lässt sich vielleicht ...
Leah schiebt Shar einen zerknitterten Umschlag in die Tasche. Shar droht mit dem Finger, hält ihn ihr dicht vors Gesicht.
– Ich halt das nicht mehr aus. Ich halt’s nicht aus.
Leah sieht ihr nach, wie sie stolpernd über die Kuppe läuft und dann weiter bergab.
15
Im Bus der Linie 98 sitzt ihr eine Frau mit einem Baby auf dem Schoß gegenüber, einem kleinen Mädchen. Sie zeigt dem Kind eine Packung Bildkarten, zwecks geistiger Anregung. Elefant. Maus. Teetasse. Sonne. Wiese mit Muh-Kühen. Das Kind fühlt sich vor allem von der Karte angeregt, die ein menschliches Gesicht zeigt. Das ist die einzige Karte, nach der es glucksend greift. So eine kluge Lucia! Die fetten Fingerchen grapschen danach. Dann greifen sie ebenso heftig nach dem Gesicht der Mutter. Nein, Lucia! Das Kind droht loszuheulen. Manche Sachen sind Menschen, erklärt die Mutter, und andere Sachen sind Bilder, und manche Sachen sind weich und
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