London NW: Roman (German Edition)
bei all dem natürlich nicht um ihr eigenes Nichtsein, klar, sondern um das Nichtsein von jemand anderem. Klar. Ja, das meinte ich doch, das wollte ich doch denken, klar. Was normale Frauen so denken.
– Mrs Hanwell? Wenn Sie so weit wären.
16
– Nicht wichtig? Was soll denn das heißen? Wie kannst du uns diese ganze Geschichte erzählen und nicht ein einziges Mal das Kopftuch erwähnen?
Natalie lacht. Frank lacht. Michel lacht am lautesten. Leicht beschwipst. Nicht nur von dem Prosecco in seiner Hand. Auch von der Pracht dieses viktorianischen Hauses, dem Ausmaß des Gartens, davon, dass er eine Anwältin und einen Banker kennt, dass er dieselben Sachen lustig findet wie sie. Die Kinder toben wie aufgezogen durch den Garten und lachen, weil alle anderen auch lachen. Leah schaut zu Olive hinunter und streichelt sie energisch, bis dem Hund unwohl wird und er sich verzieht. Sie schaut hoch zu ihrer besten Freundin Natalie Blake und hasst sie.
– Unsere Leah ... immer will sie irgendwen retten.
– Ist das nicht eigentlich deine Aufgabe?
– Leute verteidigen ist nicht dasselbe wie sie retten. Und inzwischen mache ich sowieso praktisch nur noch Handelsrecht.
Natalie schlägt ein nacktes Bein über das andere. Glatt ebenholzschwarz statuesk. Den Kopf direkt zur Sonne geneigt. Frank genauso. Sie sehen aus wie König und Königin im Profil auf einer alten Münze. Leah muss im Schatten dessen bleiben, was Frank die »Laube« nennt. Die beiden Frauen blinzeln sich über die Weite des wohlgepflegten Rasens hinweg an. Sie gehen sich auf die Nerven. Sie gehen sich schon den ganzen Nachmittag auf die Nerven.
– Ich treffe sie ständig überall.
– Naomi, hör auf damit.
– Sie war bei uns auf der Schule. Schwer zu glauben.
– Ach ja? Wieso? Naomi, lass das. Komm weg von dem Grill. Das ist Feuer, heiß. Komm her.
– Ist ja auch egal.
– Entschuldige, sag’s mir noch mal. Ich hör dir zu. Shar. An den Namen kann ich mich gar nicht erinnern. Vielleicht war das während unseres »Bruchs«? Da bist du ja mit ganz vielen Leuten rumgezogen, die ich nicht kannte.
– Nein. In der Schule hatte ich nichts mit ihr zu tun.
– Naomi! Ich mein’s ernst! Entschuldige – also, sag mal: Was ist denn jetzt das Problem?
– Es gibt kein Problem. Gar keins.
– So ist die Welt eben, das ist nicht besonders ...
– »Sagte sie und brach ab.«
– Bitte? Naomi, komm jetzt her!
– Nichts.
Frank kommt mit der Flasche, im selben Maße überschwänglich Leah gegenüber wie seine Frau schroff zu ihr ist. Sein Gesicht ist ihrem sehr nahe. Er duftet überteuert. Leah lehnt sich zurück und lässt ihn einschenken.
– Wie kommt es eigentlich, dass alle von eurer Schule cracksüchtige Kriminelle geworden sind?
– Und wie kommt’s, dass alle von deiner im Tory-Kabinett sitzen?
Frank grinst. Er sieht gut aus sein Hemd ist perfekt seine Hose ist perfekt seine Kinder sind perfekt seine Frau ist perfekt und dieses Glas Prosecco ist perfekt temperiert. Er sagt:
– Es muss ja unglaublich beruhigend sein, so eine klare Zweiteilung der Welt im Kopf zu haben.
– Frank, hör auf, sie zu ärgern.
– Leah nimmt mir das nicht übel. Du nimmst mir das doch nicht übel, Leah. Ich bin ja eh schon zweigeteilt, du wirst also verstehen, dass es mir schwerfällt, so zu denken. Wenn ihr zwei mal Kinder habt, werden die wissen, was ich meine.
Leah versucht, Frank jetzt so wahrzunehmen, wie er das anscheinend möchte: als Vorschau auf eine ganz bestimmte Zukunft für sie und für Michel. Das Kaffeebraun, die Sommersprossen. Aber von genetischen Zufälligkeiten einmal abgesehen hat Frank absolut nichts mit Leah oder Michel gemeinsam. Einmal hat sie seine Mutter kennengelernt. Elena. Sie hat darüber geschimpft, wie provinziell Mailand doch sei, und Leah geraten, sich die Haare zu färben. Frank stammt aus einem anderen Teil des Multiversums.
– Meine Schwiegermutter in ihrer unendlichen Weisheit sagt immer, wenn man die wahren Unterschiede zwischen den Menschen erfahren will, macht man am besten den Gesundheitsberater-Test. Man klingelt bei ihnen, und wenn sie sich dann auf den Boden legen und das Licht ausknipsen, taugen sie nichts!
Michel sagt:
– Das habe ich nicht verstanden. Was soll das heißen?
Natalie erläutert:
– Manche Leute machen Marcia einfach nicht auf, sie haben Angst, dass sie etwas mit dem Sozialamt oder sonst einer Behörde zu tun hat. Die wollen vor allem nicht wahrgenommen werden. Falls meine Mutter also
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