London NW: Roman (German Edition)
jemals bei euch klingeln sollte, legt euch um Himmels willen nicht auf den Boden.
Michel nickt ernst, nimmt sich diesen Ratschlag zu Herzen. Er sieht nicht, was Leah sieht. Wie Natalie mit den Fingern auf den Gartentisch trommelt und in den Himmel schaut, während sie spricht. Er sieht nicht, dass wir sie langweilen, dass sie wünschten, sie wären uns los, diese Altlasten. Und er hört auch nicht auf, er sagt:
– Diese Leute, die würden sich bestimmt auf den Boden legen. Sie wohnen in der Ridley Avenue. Und wir haben gefunden, dass sie alle zusammenleben, in eine besetzte Haus an der Ridley Avenue, vielleicht vier oder fünf solche Frauen, die auf der Straße unterwegs sind und an Türen klingeln, und wir glauben, da sind auch ein paar Kerle dabei. Zuhälter wahrscheinlich. Aber du hast mit so was ja jeden Tag zu tun. Ich muss dir das nicht erzählen, du kennst das ja. Du siehst solche Leute bestimmt jeden Tag, jeden Tag, oder? Vor Gericht.
– Michel, Schatz ... Das ist, als würde man auf einem Fest einen Arzt bitten, sich das Muttermal anzuschauen, das man auf dem Rücken hat.
Michel sagt immer aufrichtig, was er denkt, und es ist seltsam, dass gerade diese Eigenschaft, die Leah im Privaten ausgesprochen schätzt, ihr in der Öffentlichkeit so peinlich ist. Nat sieht Spike dabei zu, wie er durch ein Blumenbeet tapst. Dann richtet sich ihre Aufmerksamkeit wieder auf Leah, und Leah fällt ihr Urteil: heiter, ein bisschen herrisch. Unaufrichtig.
– Nein, das interessiert mich, Michel, red nur weiter, entschuldige.
– Der andere, ein Typ, der war auch bei euch auf der Schule. Der hat sie vor ein paar Wochen auf der Straße nach Geld gefragt.
– So war das doch überhaupt nicht! Er redet von Nathan Bogle. Der hat Tageskarten an der U-Bahn verkauft. Du weißt ja, dass er das macht, du hast ihn doch auch schon gesehen, in Kilburn, manchmal auch in Willesden?
– Hmm.
Es ist entwürdigend, so viel abgrundtiefe Langeweile bei der langjährigsten Freundin auszulösen. Leah muss zu all den alten Namen und Gesichtern greifen, um sie überhaupt noch halbwegs zu fesseln.
Frank sagt:
– Bogle? War das nicht der, den sie wegen Heroinschmuggels geschnappt haben?
– Nein, das war Robbie Jenner. Aus dem Jahrgang drunter. Bogle war nie auf dem Niveau. Er hat die Schule geschmissen, um Fußballer zu werden. Spike, Schätzchen, bitte lass das.
– Und? Ist er Fußballer geworden?
– Wie? Ach ... nein. Nein.
Vielleicht existiert ja auch die Brayton nicht mehr für sie. Vorbei, abgelegt. Sie ist vermutlich ebenso erstaunt, aus der Brayton hervorgegangen zu sein, wie die Schule sich wundert, sie hervorgebracht zu haben. Nat, das eine Mädchen aus dem Tausend-Schüler-Hexenkessel, das es zu etwas gebracht hat; vielleicht sogar zu so viel, dass sie vergessen hat, wo sie herkommt. Um so ein Leben zu führen, muss man doch alles vergessen, was vorher war. Wie schafft man das sonst?
– Das war ein echt süßer Junge. Seine Mutter war Sankt-Luzierin. Sankt-Luzianerin? Unsere Mütter kannten sich alle. Richtig hübsch und nur Scheiß im Kopf. Hat er nicht auch Schlagzeug gespielt? Ziemlich gut sogar. Er saß immer neben Keisha. Als sie noch Keisha war. Ich war wahnsinnig eifersüchtig, damals, mit acht. Oder nicht, Keisha?
Natalie kaut an einem Nagel, sie kann es nicht ausstehen, wenn man sie ärgert. Lässt sich nicht gern an ihre eigenen Ungereimtheiten erinnern. Insgeheim riskiert Leah eine etwas härtere Formulierung: ihre Heucheleien. Leah kommt täglich an der alten Siedlung vorbei, auf dem Weg zum Laden an der Ecke. Sie sieht sie vom Garten aus. Nat wohnt gerade weit genug weg, um sie zu meiden. Alle Treffen finden sowieso hier statt, bei Nat daheim, und warum auch nicht? Es ist doch so ein schönes Haus! Leah wird rot, als sich ein unrechtes Wort in ihre Gedanken drängt, Shars Wort: Kokosnuss. Außen braun, innen weiß. Und dann mischt Michel sich ein und macht die Sache perfekt:
– Du hast ja deinen Namen geändert. Das vergesse ich immer wieder. Nach dem Motto: Zieh dich so an, dass es dem Job entspricht, den du willst, nicht dem Job, den du hast. Mit dem Namen ist das auch so, so empfinde ich das.
Aber für Leah ist schon wieder alles gelaufen durch das deprimierende So empfinde ich das, was er immer nur sagt, wenn er hier ist, und was ihr peinlich ist. Natalie reißt die Augen auf; sie stürzt sich nur so auf den Themenwechsel, zu dem Kinder anscheinend immer einen Anlass bieten.
– Michel, du musst
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