London NW: Roman (German Edition)
zurück.
– Sonst was? Scheiß-Memme! Du hast meinen Hund getretet! Ich ruf die Polizei!
– MICHEL . Mach’s nicht noch schlimmer.
Sie hat eine Hand an seiner Brust. Für jeden Außenstehenden muss es wirken, als hielte sie ihn zurück. Nur sie weiß, dass er gar nicht versucht, sie wegzuschubsen. So trennen sich die beiden Männer, indem sie einander im Weitergehen gründlich beschimpfen und mit dem Gedanken spielen, dass sie noch nicht fertig sind, dass sie sich jeden Moment umdrehen und aufeinander losgehen könnten. Es ist nur albernes Show-Gehabe: Die Gegenwart einer Frau hat sie von ihren Verpflichtungen erlöst.
21
Leah glaubt an Sachlichkeit. Sie hat sich wieder etwas beruhigt, sie sind fast daheim. Wer war diese Frau im Moment der Krise, die schrie und weinte, auf Knien flehte, mitten auf der Straße? Albern, sich das einzugestehen, aber sie hat sich immer als »tapfer« empfunden. Als Kämpferin. Jetzt macht sie die Bekanntschaft einer Verhandlerin, einer Bittstellerin, einer taktierenden Lügnerin. Bitte zerstör nicht, was ich liebe! Und ihre Bitte wurde erhört und stattdessen ein geringeres Opfer gebracht, und in dem Moment war sie auf schlichte, schäbige Weise dankbar für das Entgegenkommen.
Auch jetzt hat sie sich noch nicht wieder richtig gesammelt. Michel hält Olive im Arm und hämmert gegen ihre eigene Haustür, während Leah weiterhin rätselt, in welcher Einkaufstüte der Schlüssel steckt.
– Geht’s ihr gut?
– Ihr fehlt nichts. Außer, sie hat innere Verletzungen. Ich finde, ihr fehlt nichts. Nur die Schock.
– Und du?
Die Antwort steht ihm im Gesicht. Erniedrigung. Zorn. Klar, Männern fällt es schwerer, sachlich zu bleiben. Bei ihnen ist der Stolz das Problem.
– Ned!
– Alles okay bei euch, Leute?
– Hilf Lee mit den Tüten.
Sie gehen in die Küche und betten den geliebten Hund in sein Körbchen. Ihr scheint nichts zu fehlen. Futter? Sie frisst. Ball werfen? Sie flitzt. Vielleicht fehlt ihr ja wirklich nichts, aber bei den Menschen sind Adrenalin und Erschütterung noch zu stark, um loszulassen. Leah erzählt Ned die Geschichte, bereinigt sie um allen Zorn und alle Erniedrigung. Michel der Tapfere! Michel der Beschützer! Sie legt ihrem Mann eine Hand auf den Arm. Er schüttelt sie ab.
– Sie hat behauptet, sie wäre schwanger. Da hat er Mitleid mit uns gehabt! Ich lag auf dem Boden wie ein Idiot.
– Nein. Du hast nur verhindert, dass es schlimmer wird als unbedingt nötig.
Sie legt ihm wieder die Hand auf den Arm. Diesmal lässt er sie.
– Glaubst du, wir können sie heute Abend allein lassen? Ich weiß nicht recht. Ned, kannst du ein Auge auf sie haben? Und anrufen, wenn was ist? Vielleicht sollten wir doch besser hierbleiben. Absagen.
Das ist ein gesetztes Essen, sagt Michel, ich glaube nicht, dass wir da einfach absagen können. Ihr fehlt nichts. Dir fehlt doch nichts, Baby, oder? Dir fehlt doch nichts? Die beiden Menschen suchen Bestätigung in den Augen des Tieres. Leah zwingt sich zur Sachlichkeit. Hätte inzwischen nicht längst einer der Menschen das Wort »Tierarzt« ausgesprochen, wenn sie nicht die Kosten fürchten müssten, die das Aussprechen eines solchen Worts nach sich zieht?
22
Hanwell hat nie zum Abendessen eingeladen. Er ist auch nie essen gegangen. Das stimmt so nicht: Zu besonderen Gelegenheiten führte er seine kleine Familie ins Vijay’s an der Willesden Lane, wo sie an einem Tisch an der Tür saßen, rasch aßen und immer befangener in ihren Gesprächen wurden. Nichts in ihrer Kindheit hat Leah darauf vorbereitet, wie häufig sie jetzt zum Abendessen eingeladen ist, meistens bei Natalie, die Michel und sie einlädt, damit sie für etwas Lokalkolorit sorgen. Sie wissen beide nicht, was sie mit Anwälten und Bankern und dann und wann einem Richter reden sollen. Natalie will nicht glauben, dass sie schüchtern sind. Jedes Mal schiebt sie es auf einen Fehler in der Sitzordnung, aber jedes Mal wird es wieder peinlich. Sie sind schüchtern, ob Natalie das nun glaubt oder nicht. Sie haben kein Talent für Anekdoten. Sie schauen auf ihre Teller und zerkleinern mit größter Sorgfalt ihr Essen, lassen Natalie ihre Geschichten für sie erzählen, nicken, um Einzelheiten, Namen, Daten, Orte zu bestätigen. Der allgemeinen Analyse der Tischgesellschaft überlassen, nehmen diese Anekdoten ein separates, eindrucksvolles Eigenleben an.
– oder einfach weggerannt. Ich wäre ja gerannt wie der Teufel und hätte sie ihrem Schicksal
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