Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
London NW: Roman (German Edition)

London NW: Roman (German Edition)

Titel: London NW: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zadie Smith
Vom Netzwerk:
Irgendeine Anziehungskraft muss die Vorstellung von der Apokalypse wohl haben. Viertel, die zu Plünderzonen verkommen. Improvisierte Schulen in verlassenen Supermärkten und Kirchen. Neue Gruppierungen, neue Verbindungen, mehrere Partner, Kinder, frei von dieser ganzen langweiligen Überfürsorge. An jeder Straßenecke kommt Musik aus riesigen, hochgetunten Soundsystems. Die Menschen bewegen sich in großen gesichtslosen Pulks voran, führungslos, wellenförmig, maskiert, auf der Suche nach Nahrung, Waffen. Ein »Steam-Rush« auf Caldwell, sonntags, im Rudel durch die Flure rennen, überall klingeln.
    Das waren noch Zeiten. Was, Leah? Das waren doch wirklich noch Zeiten. Whiskey durchreichen. Es ist schließlich ein ganz simpler Vergleich: Für ein komplexes wirtschaftliches Ereignis kann man gar nicht auf die gleiche Weise verantwortlich sein wie dafür, mit Einbruchsplänen raus auf die Straße zu gehen. Kaffee durchreichen. Nicht irgendein Kaffee, sondern ausgesprochen guter Kaffee.
    – Man ist einfach enttäuscht.
    – Furchtbar enttäuscht.
    – Vor allem, wenn man sich wirklich ins Zeug gelegt hat, jemandem zu helfen, und dann wirft der einem einfach alles vor die Füße. Das kann ich überhaupt nicht haben. Wie das, was Leah neulich passiert ist – Lee, erzähl doch mal von dem Mädchen.
    – Bitte?
    – Dieses Mädchen mit dem Kopftuch. Das bei dir vor der Tür stand. Eigentlich eine richtig traurige Geschichte. Okay, ich erzähl sie selber ...
    Erst als sie auf beide Wangen geküsst worden sind, als die schwere Haustür sich wieder geschlossen hat, als sie wieder in die Nacht hinausdürfen, erwachen Leah und Michel zum Leben. Doch selbst so eine Eintracht der Entrüstung kann leicht auseinanderfallen. Als sie am U-Bahn-Eingang sind, hat Leah es irgendwie geschafft, zu viel zu sagen, zu viel zu klagen, und die hochempfindliche Wasserwaage ihres Verhältnisses, ihres Wir-gegen-die, verrutscht und zeigt eine Schieflage an.
    – Glaubst du nicht, die langweilen sich genauso wie du? Hältst du dich für so was Besonderes? Glaubst du, ich wache jeden Tag auf und freu mich so wahnsinnig, dich zu sehen? Du bist auch ein Snob, nur andersrum. Glaubst du, du bist die Einzige, die was anderes will? Ein anderes Leben?
    Die Heimfahrt verbringen sie schweigend, stinkwütend. Sie laufen schweigend durch Willesden. Erreichen schweigend die Haustür, greifen gleichzeitig nach unterschiedlichen Schlüsseln. Sie vollführen einen komischen Kampf ums Schlüsselloch, und Leah knickt als Erste ein. Als sie im Flur sind, lachen sie, und kurz darauf küssen sie sich. Wenn sie bloß immer allein sein könnten. Wenn die Welt bloß aus dir und mir bestünde, sagt Leah, dann wären wir immer glücklich. Du klingst genauso wie die, sagt Michel und steckt seiner Frau die Zunge ins Ohr.
    Am nächsten Morgen treffen sie mild gestimmt, in T-Shirt und Unterhose in der Küche ein, blicken der unendlichen Weite eines Samstagmorgens entgegen. Leah geht nach der Post schauen. Sie sieht sie als Erste. Unschuldiges, geliebtes Tierchen, kalt, noch nicht ganz steif, fernab von ihrem Korb, unter dem Tisch der Kammer, auf der Seite liegend. Blutiger Schaum vor der Schnauze. Michel! Michel! Sie kriegt es nicht laut genug heraus. Oder er ist im Garten, bewundert den Baum. Die Klingel ertönt. Es ist Pauline. Olive ist tot! Sie ist tot! Oh mein Gott! Sie ist tot! Wo, fragt Pauline. Zeig sie mir. Das ist die Krankenschwester in ihr. Und als Michel kommt und es sieht und kein bisschen weniger hysterisch wird als Leah, ist Leah erstaunt, wie dankbar sie ist, dass ihre Mutter so pragmatisch im Leben steht. Leah will weinen, nichts als weinen. Michel will die Abfolge der Ereignisse immer und immer wieder durchgehen. Er will eine Chronologie erstellen, als könnte das irgendetwas ändern. Pauline will dafür sorgen, dass der Bereich rund um den Tisch desinfiziert und der Karton mindestens einen halben Meter tief unter dem gemeinschaftlichen Rasen vergraben wird. Die anderen fragen, sagt Pauline – und meint damit die anderen Hausbewohner –, hat keinen Sinn, die sagen doch nur nein. Beeilung, sagt sie, jetzt reißt euch mal zusammen. Wir müssen das jetzt machen. Trinkt einen Tee. Beruhigt euch. Sie fragt: Ist euch denn nicht aufgefallen, dass sie nicht gebellt hat, als ihr heimgekommen seid?

23
    Man könnte auch behaupten, Michels Traum sei in Erfüllung gegangen: Sie sind eine Sprosse höhergeklettert, zumindest was die Beschaffenheit und Ausgefeiltheit

Weitere Kostenlose Bücher