London NW: Roman (German Edition)
gehandelter Kaffee, Süßkram und die falsche Zeitung.
Sie sind keine guten Menschen. Sie besitzen nicht einmal die Größe, die Sorte Menschen zu sein, die sich nicht darum sorgen, ob sie gute Menschen sind. Sie sorgen sich ständig. Wieder sitzen sie im Mittelmaß fest. Sie kaufen immer Pinot Grigio oder Chardonnay, weil das die einzigen Ausdrücke sind, die sie mit Wein verbinden. Sie sind zum Abendessen eingeladen, da muss man eine Flasche Wein mitbringen. Das immerhin haben sie gelernt. Michel behauptet, sie kaufen nichts ethisch Vertretbares, weil sie sich das nicht leisten können, und Leah sagt, nein, weil es dir einfach zu viel Aufwand ist. Insgeheim denkt sie: Du willst so reich sein wie die, aber ihre Moral ist dir zu viel Aufwand, während ich mich eher für ihre Moral interessiere als für ihr Geld, und dieser Gedanke, dieser Gegensatz, gibt ihr ein gutes Gefühl. Die Ehe, als schöne Kunst des boshaften Vergleichs betrachtet. Und scheiße, das ist er, da an der Telefonzelle, und wenn sie auch nur eine Sekunde länger nachgedacht hätte, dann hätte sie nie gesagt:
– Scheiße, das ist er, da an der Telefonzelle.
– Das ist er?
– Ja, aber – nein, ich weiß nicht. Nein. Ich dachte nur. Egal. Vergiss es.
– Leah, gerade hast du noch gesagt, er ist es. Ist er’s jetzt oder nicht?
Schon ist Michel außer Hörweite und drüben und rüstet sich für einen weiteren boshaften Vergleich: seine gedrungene, wohlproportionierte Tänzerstatur gegen einen großen, bedrohlichen Muskelberg, der sich jetzt umdreht und gar nicht Nathan ist, der sicherlich der andere Typ sein muss, den sie mit Shar gesehen hat, wobei, vielleicht auch nicht. Die Kappe, das Kapuzenshirt, die tief sitzende Jeans, das ist wie eine Uniform – die sehen alle gleich aus. Von Leahs Standort aus ist alles sowieso nur Pantomime, Gesten und Urzeitgrimassen und natürlich eine potenzielle Geschichte für die Nachrichten, die alles erläutern, nur nicht das Leid und die Einzelheiten: Auf der Kilburn High Road hat ein junger Schwarzer einen anderen niedergestochen. Sie hatten Namen und Alter, und es ist furchtbar tragisch, irgendein Armutszeugnis für irgendetwas und außerdem ganz schlecht für die Immobilienpreise. Leah kann vor Angst nicht atmen. Sie rennt, um aufzuholen, Olive trappelt neben ihr her, und während sie rennt, fällt ihr etwas auf, das gar keine Rolle spielen dürfte: Sie sieht älter aus als alle beide. Der Junge ist ein Junge und Michel ist ein Mann, aber sie sehen aus, als wären sie gleich alt.
– Ich weiß ja nicht, was du da laberst, bruv, aber besser, DU MACHST MICH NICHT AN .
– Michel – bitte. Lass es, bitte!
– Sag deinem Macker, er soll mich nicht anmachen.
– Ruf nicht mehr bei mir zu Hause an, klar? Du lässt meine Frau in Frieden! Hast du das kapiert?
– Was laberst du denn da für ’ne Scheiße? Willst du ’n paar?
Sie rammen den Brustkorb gegeneinander wie die Primaten; Michel wirft es würdelos stolpernd rückwärts auf den Gehsteig, er landet neben seinem albernen Hund, der ihm das Ohr leckt. Sein Gegner dräut turmhoch über ihm und holt mit dem Fuß aus, um sich auf den Strafstoß vorzubereiten. Leah schiebt sich zwischen die beiden, streckt die Arme aus, um sie zu trennen, die flehende Frau aus einer uralten Geschichte.
– Michel! Hör auf! Er ist es nicht. Bitte – das ist mein Mann, er hat nicht nachgedacht, bitte tun Sie ihm nichts, lassen Sie uns einfach gehen, bitte.
Der Fuß holt ungerührt weiter aus, für maximale Durchschlagskraft. Leah fängt an zu weinen. Aus dem Augenwinkel sieht sie ein junges weißes Pärchen in Businesskleidung, das die Straßenseite wechselt, um ihnen auszuweichen. Keiner wird helfen. Sie legt die Hände zum Gebet aneinander.
– Bitte lassen Sie ihn, bitte. Ich bin schwanger – bitte lassen Sie uns in Frieden.
Der Fuß tritt den Rückzug an. Eine Hand schwebt über Michel, während der sich wieder hochrappelt, eine Hand in Form einer Pistole, auf seinen Kopf gerichtet.
– Mach mich noch einmal an – paff paff! – weg bist du.
– Leck mich. Klar? Ich hab keine Angst vor dir!
In Sekundenschnelle holt der Fuß wieder aus und schnellt auf Olives Bauch zu. Sie trudelt etliche Meter weiter bis in den Eingang des Süßwarenladens. Sie macht einen Laut, wie Leah ihn noch nie gehört hat.
– Olive!
– Hast echt Schwein, bruv, dass deine Kleine aufgetaucht ist. Sonst.
Er ist schon wieder halb über die Straße, ruft über die Schulter
Weitere Kostenlose Bücher