London NW: Roman (German Edition)
Gefühl hast, arm aufzuwachsen, obwohl wir tatsächlich arm waren. Aber du hast dich einfach nie für eine Sache entschieden, das meine ich ja nur. Der Rasen braucht dringend Wasser.
Pauline bückt sich unvermittelt, richtet sich mit einer Handvoll Gras und Erde wieder auf.
– Londoner Erde. Sehr trocken. Ihr jungen Frauen macht heute natürlich alles ganz anders. Ihr wartet und wartet und wartet. Ich weiß nur nicht, worauf ihr wartet.
Fast dunkelrot von der Anstrengung, der Helm aus weißem Haar umrahmt feucht und platt das Gesicht. Mütter versuchen immer, ihren Töchtern etwas Dringendes mitzuteilen, und genau diese Dringlichkeit stößt die Töchter zurück, treibt sie dazu, sich abzuwenden. Und die Mütter hängen in der Luft, halten wie bekloppt einen Klumpen Londoner Erde in der Hand, etwas Gras, ein paar weiße Knollen, eine Löwenzahnblüte, einen dicken Regenwurm, der die ganze Welt durch sich hindurchwandern lässt.
– Igitt! Leg den Dreck jetzt besser mal wieder hin, Mum.
Sie sitzen nebeneinander auf einer Parkbank, die Michel vor ein paar Jahren entdeckt hat. Jemand hatte sie mitten auf der Straße stehen lassen, oben am Cricklewood Broadway. Stand da seelenruhig! Mitten im Verkehr! Als wäre sie einfach aus dem Teerbelag gewachsen. Alle anderen Wagen wichen ihr aus. Aber Michel bremste den Mini Metro, klappte die Sitze zurück, öffnete den Kofferraum und zwängte sie, mit Paulines halbherziger Unterstützung, zur Hintergrundmusik der Autohupen hinein. Zu Hause angekommen, entdeckten sie das Siegel der Königlichen Parkverwaltung darauf. Pauline nennt die Bank den Thron. Setzen wir uns doch ein bisschen auf den Thron.
– Es war nur die Hitze. Olive, Schätzchen, komm her.
– Nicht zu mir! Sonst krieg ich gleich wieder knallrote Augen! Das da ist mein Enkelkind. Das einzige, das ich jemals kriegen werde, wenn das so weitergeht. Ich bin allergisch gegen mein Enkelkind.
– Jetzt reicht’s, Mum!
Schweigend sitzen sie auf dem Thron und starren in verschiedene Richtungen. Offenbar sind zwei unterschiedliche Auffassungen von Zeit hier das Problem. Inzwischen, das weiß sie, sollte sie alle Entscheidungen ihrem biologischen Urinstinkt überlassen. Vielleicht ist sie ja schon zu lange ein Großstadttier. Jeder Neuankömmling – die Nachrichten treffen jetzt gefühlt täglich ein – erscheint ihr wie ein schrecklicher Verrat. Warum halten nicht einfach alle still? Sie hat sich zum Stillhalten gezwungen, doch das hindert die Welt nicht daran, sich weiterzudrehen. Und alles, was passiert, dient auch nur dazu, die Möglichkeiten all dessen, was nicht passiert ist, grauenhaft einzuschränken, und darum die Nummer 37, und darum die Tür, die in dem Moment aufgeht, als sie davorsteht, die Hand voller Broschüren, und Shar, die sagt: Leg die weg, gib mir die Hand. Wollen wir weglaufen? Bist du bereit? Wollen wir weglaufen? Lass das alles hinter dir! Wir werden vogelfrei! Unter Hecken schlafen. Den Schienen folgen, bis man am Meer ist. Aufwachen mit diesem langen schwarzen Haar in den Augen, im Mund. Daheim anrufen von Fantasie-Fernsprechern, die noch die alten Zwei-Pence-Münzen schlucken. Es geht uns gut, macht euch keine Sorgen. Ich will stillhalten und mich weiterdrehen. Ich will dieses Leben und ein anderes. Sucht nicht nach mir!
– will ich doch nur helfen, und ich kriege kein bisschen Dank dafür. Ich weiß nicht einmal, ob du mir überhaupt zuhörst. Aber von mir aus. Es ist ja dein Leben.
– Was willst du eigentlich mit einem Heiligtum?
– Was meinst du mit Heiligtum? Unsere Liebe Frau? Ach, um die mach ich mir keine Gedanken. Die ist ganz harmlos. An der Tür steht anglikanisch, und seit tausend Jahren ist sie das auch. Das reicht mir voll und ganz. Die Leute aus den Kolonien und diese Russischen, die sind abergläubisch, aber kann man ihnen das verdenken? Sie haben Schreckliches durchgemacht. Wie käme ich dazu, anderen Leuten ihren Halt zu nehmen?
Pauline schaut vielsagend zu ihrem alten Wohnlock hinüber, wo es von Leuten aus den Kolonien und diesen Russischen nur so wimmelt. Heute, wie praktisch jeden Tag seit Anbeginn der Sonnenzeit, ist die Nebelhorn-Frau wieder draußen und führt ein Streitgespräch mit der unbekannten Person am anderen Ende ihres Headsets. Du disst mich hier? Diss mich gefälligst nicht! Was immer man sonst von ihr sagen kann, sie ist doch unverkennbar irischer Herkunft. Niedrige Verbrecherstirn, weit auseinanderstehende Augen. Für die gefallenen Angehörigen
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