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London NW: Roman (German Edition)

London NW: Roman (German Edition)

Titel: London NW: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zadie Smith
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ihrer Ängste betrifft. Es liegt in Leahs Naturell, Michel die Schuld in die Schuhe zu schieben – an dem neuen Misstrauen, dem Chubb-Schloss an der Tür, dass er sie jetzt immer von der U-Bahn abholt, dass sie die Straßenseite wechseln, um »gewissen Elementen« aus dem Weg zu gehen, und ständig übers Umziehen reden. Michel sitzt immer länger vor dem Rechner, träumt vom unverhofften Gewinn, der sie in einen anderen städtischen Vorort versetzen wird, mehr nach seinem Geschmack, sprich: afrikanischer und weniger karibisch. Leah hat dazu nichts zu sagen. Sie ist versunken, der Juli ein verlorener Monat. Sie lässt sie geschehen, all die kleinen Veränderungen dort über ihr, an der Oberfläche, während sie selbst auf dem Meeresboden umherläuft. Sie trauert fürchterlich. Sie ist nicht vertraut mit den Regeln für das Betrauern von Haustieren. Bei einer Katze: eine Woche. Bei einem Hund: Zwei sind noch akzeptabel, ab der dritten wird es langsam albern, vor allem im Büro, wo – nach gutem karibischen Geist – jedes Tier, das kleiner ist als ein Esel, als Ungeziefer gilt. Sie trauert um ihren Hund. Sie glaubt, vor Traurigkeit umzukommen. Immer, wenn sie einen von Olives vielen Zwillingen in der Bullenhitze die Edgware Road entlangschnaufen sieht, überwältigt es sie. Auf der Arbeit beäugt Adina ihr verschwollenes, tränenverschmiertes Gesicht. Doch nicht immer noch der Hund. Immer noch? Und sollte es tatsächlich eine Verschiebung sein, sollte sie eigentlich um etwas anderes trauern als um ihren Hund, ist das für die Trauernde faktisch doch kein Unterschied: Olive hat sie gekannt, und Olive vermisst sie jetzt. Leah gehört auf einmal zu den Verrückten, die andere Hundebesitzer auf der Straße anhalten und ihnen ihre Leidensgeschichte erzählen.
    Auf dem Rückweg von einer eintägigen Fortbildung in Harlesden stellt sie fest, dass sie sich in den Nebenstraßen verlaufen hat. Sie biegt ein paarmal ziellos links ab, um nicht stehen zu bleiben, um einen sicherlich ganz harmlosen Fremden mit Kapuze abzuhängen, und plötzlich ist da wieder die seltsame kleine Kirche und schlägt sechs. Sie geht hinein. Eine halbe Stunde später kommt sie wieder heraus. Sie erzählt weder Michel noch sonst jemandem davon. Von nun an macht sie das fast jeden Tag. Ende Juli beharrt Michel: Sie müssen Schritte einleiten. Leah stimmt zu. Sie werden auf die staatliche Warteliste des NHS gesetzt. Doch jeden Morgen schließt sie die Badezimmertür ab und schluckt ihre kleine Anti-Baby-Pille. Geklaute Packungen aus Natalies Badschrank, gut versteckt in einer Schublade. Sie will keine »Schritte einleiten«. Für Leah führen diese Schritte nicht weiter. Sie will nur sich und ihn, für immer.
     
    Es wird August.
    Es wird August.
     
    Karneval! Die Mädels von der Arbeit, die Jungs aus dem Salon, alte Schulfreunde, Michels Verwandte aus Südlondon, sie alle durchstreifen mit Tausenden anderen die Straßen. Suchen nach den guten Soundsystems, drängen sich eng an wildfremde Körper und aneinander, essen mariniertes Grillfleisch und landen schließlich in den Meanwhile Gardens bekifft im Gras. Normalerweise. Dieses Jahr nicht. Dieses Jahr nehmen sie endlich Franks alljährliche Einladung an, mit zu dem Freund von Freunden zu kommen, der »eine Wahnsinnsbude direkt am Karneval« hat. Ein Italiener. Früh am Sonntagmorgen treffen sie ein, wie ihnen geraten wurde, damit sie dort sind, bevor die Straße abgeriegelt wird. Sie kommen sich ein wenig albern vor, durch die leere Wohnung von Leuten zu laufen, die sie gar nicht kennen. Keine Spur von Frank und Nat. Michel macht sich in der Küche nützlich. Leah lässt sich einen Cuba Libre geben und setzt sich in einen Ecksessel, beobachtet durchs Fenster, wie die Polizei an der Absperrung aufmarschiert. In der Zimmerecke redet der Fernseher. Er muss ziemlich lange reden, bis Leah auf ihn aufmerksam wird, und das auch nur, weil er eine Straße aus der Gegend nennt, gleich bei ihr um die Ecke.
    – der Albert Road in Kilburn, wo gestern Abend alle Hoffnungen auf ein friedliches Karnevalswochenende zunichtegemacht wurden, als sich die Nachricht einer tödlichen Messerstecherei verbreitete, gleich hier, am Rand der Karnevalsstrecke durch Nordwest-London, wo sich die Menschen auf das heutige fröhliche Treiben vorbereiten ...
    Albert Road! brüllt Michel aus der Küche. Leah brüllt zurück:
    JA ABER DAS HAT NICHTS MIT DEM KARNEVAL ZU TUN – DAS WAR GESTERN ABEND. IST NUR ...
    Michel kommt zur Tür

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