London NW: Roman (German Edition)
Würden Sie bitte noch mal nachsehen?
Hinter ihr hat sich eine Schlange gebildet. Man überlegt, ob sie vielleicht spinnt. Zwangseinweisungen sind in NW an der Tagesordnung, und oft sind es gerade die Leute, von denen man es am wenigsten vermuten würde. Die Inderin im weißen Kittel hinter der Theke blättert noch einmal die gelben Umschläge in ihrer Schachtel durch.
– Aha – Hanwell. Das stand nicht unter H . Es war an der falschen Stelle einsortiert. Entschuldigen Sie bitte, Madam.
Sie spinnt also nicht. Fotos. Man vergisst so leicht, wie richtige Fotos sind, den Glanz, das Glücksgefühl. Aber das erste ist komplett schwarz, und das zweite auch; das dritte zeigt nur einen roten Lichtkreis, als hielte jemand eine Taschenlampe unter ein Bettlaken.
– Hören Sie, das sind aber nicht meine. Die will ich nicht ...
Auf dem vierten ist Shar. Unverkennbar. Shar, die den Fotografen anlacht, an eine Tür gelehnt, irgendeine kleine Flasche in der Hand, Wodka vielleicht? Über ihr eine Dartscheibe. Sonst keine Möbel in dem verdreckten Zimmer. Auf dem fünften wieder Shar, die immer noch lacht, jetzt aber auf dem Boden hockt und fertig aussieht. Das sechste zeigt eine verlotterte Rothaarige, nur Haut und Knochen und Einstichspuren, mit einer Kippe im Mundwinkel, und wenn man ein wenig die Augen zukneift ...
– Entschuldigen Sie bitte, Madam. Geben Sie sie mir, da ist uns wohl etwas durcheinandergeraten.
Michel, der nach Rasierschaum geschaut hat, kommt herüber. Er ist nicht erstaunt. Es nervt, wie hartnäckig er sich weigert, überrascht oder erstaunt zu sein.
NW ist ein Dorf.
Mit zwei Drogerien.
Da werden schon mal Fotos vertauscht.
Klingt ganz vernünftig, aber sie kann es nicht vernünftig betrachten. Es macht sie rasend, dass er ihr vielleicht nicht glauben könnte. Das war das Mädchen! Glaubst du mir etwa nicht? Ist doch ein irrsinniger Zufall! Ihre Fotos in meinem Umschlag! Glaubst du mir etwa nicht? Aber warum sollte er ihr glauben, wo sie doch in allem gelogen hat? Die Schlange scharrt ungeduldig mit den Füßen. Leah wird laut, und die Leute mustern sie, als wäre sie nicht ganz dicht. Michel zerrt sie zum Ausgang, die kleine Glocke über der Tür bimmelt, und es ist alles viel zu schnell vorbei. Irgendwie macht gerade diese Kürze alles so verworren – die viel zu wenigen Sekunden, in denen sie gesehen und erkannt hat, was Sache war. Das Mädchen. Ihre Fotos. Mein Umschlag. Es war so. Wie ein Rätsel in einem Traum. Eine Lösung gibt es nicht. Und auch keine Möglichkeit, zurückzunehmen, was sie so lauthals vor all diesen anständigen Anwohnern verkündet hat, oder noch einmal nach den Fotos zu fragen, die offensichtlich nicht ihre sind. Was würden die Leute denken?
Gast
NW6
Der Mann war nackt, die Frau angezogen. Das wirkte irgendwie verkehrt, aber die Frau hatte Termine. Er lag albernd im Bett, hielt sie am Handgelenk fest. Sie versuchte, sich einen Schuh anzuziehen. Unter dem Fenster wurden Lastwagentüren geöffnet, Warenkartons auf Asphalt gehievt. Felix setzte sich auf und schaute auf den Parkplatz hinunter. Er sah, wie sich ein Mann in orangefarbener Weste mit drei aufeinandergestapelten Kisten Äpfel durch eine Automatiktür kämpfte. Grace tippte mit einem langen, falschen Fingernagel gegen die Scheibe. »Die können dich sehen, Baby.« Felix streckte sich. Er machte keine Anstalten, sich zu bedecken. »Gibt echt schamlose Leute«, kommentierte Grace und zwängte sich um das Bett herum, um die Figürchen auf dem Sims gerade zu rücken. Blödsinn, sie ausgerechnet da aufzustellen – der Mann hatte in der Nacht ein paar der Prinzessinnen umgestoßen, und jetzt wollte die Frau wissen, wo »Ariel« sei. Der Mann drehte sich wieder zum Fenster. »Felix, ich red mit dir. Was hast du mit ihr angestellt?« »Ich hab sie nicht angerührt. Welche ist das überhaupt? Die mit den Karottenhaaren?« »Von wegen Karotte – rot sind die. Sie steckt da hinter dem Ding – das ist eklig da!« Eine gute Gelegenheit, Männlichkeit zu demonstrieren. Felix schob den mageren Arm hinter den Heizkörper und zog die Exmeerjungfrau hervor. An ihren hart erkämpften Füßen hielt er sie ins Licht: »Karotte. Aber so was von.« Grace stellte die Puppe wieder an ihren Platz zwischen der Braunen und der Blonden. »Lach du nur«, sagte sie. »Das vergeht dir schon noch, wenn ich dich vor die Tür setze.« Allerdings. Die Laken waren weiß und sauber, bis auf den nassen Fleck, den er selbst verursacht hatte, und
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