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London NW: Roman (German Edition)

London NW: Roman (German Edition)

Titel: London NW: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zadie Smith
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versetzt worden war. Dieses große altmodische Ganze. Er kannte es nur zu gut. Das verkommene Immer-Gleiche, die Art, wie nichts je erneuert wurde. Sie sprach von Antiquitäten. Nur eine andere Formulierung für: Das Geld ist alle. Fünf Jahre! Er ließ den Kater auf die Couch fallen; das sprungfederlose Polster nahm ihn sackend in Empfang. Wie hatte er diesen Ort bloß so gut kennengelernt? Ihn nicht mehr zu kennen, würde alles wieder in den natürlichen, gesunden Urzustand versetzen.
    »Annie? Kommst du mal raus?«
    »Ich bin in der Wanne! Göttlich. Komm doch rein!«
    »Nee, lass mal. Ich warte.«
    »Was?«
    » ICH WARTE .«
    »Sei nicht albern. Bring den Aschenbecher mit.«
    Felix sah sich um. Auf einem Kleiderbügel am Fensterrahmen hing, körperlos und lichtdurchflutet, ein komplettes Outfit. Lila Jeans, ein kompliziertes Top mit Sicherheitsnadeln vorne, eine Art Umhang mit Schottenkaro, und darunter auf dem Boden zwei gelbe Lederstiefel mit zehn, zwölf Zentimeter hohen Absätzen; das alles bekam keiner je zu sehen, bis auf den Lieferanten vom Spirituosenladen, der ihr ihre »Lebensmittel« brachte.
    »Ich seh keinen Aschenbecher.«
    Oben auf den Stapeln aus diversen Umschlägen und Zeitungsseiten fanden sich kleine Häufchen Asche und aufgerauchter Kippen. Man kam nur schwer voran – offenbar waren Umräumarbeiten im Gange. Der ganze Boden voller Papiertürme. Es war noch schlimmer als die Lebensumstände seines Vaters, aber der Geist, das begriff Felix jetzt, war genau derselbe: ein großes Leben auf geringen Raum gepresst. Bisher hatte er sie noch nie direkt hintereinander besucht, erst den einen, dann die andere. Dasselbe Gefühl von Beklemmung und Unruhe, derselbe Drang, sich befreien zu müssen.
    »Du meine Güte – bei den Pawlowas. ›Der russischen Trulla mit dem Pferdegesicht‹. Gleich drunter.«
    Nie wieder würde er Interesse an Dingen heucheln müssen, die ihn gar nicht interessierten. Tänzerinnen, Romane, ihre lange, qualvolle Familiengeschichte. Er stieg über einen gläsernen Couchtisch dorthin, wo acht Fotos von Anna Pawlowa rautenförmig an der Wand hingen, passend zu der Pyramide aus Kippen darunter, der einzigen Dekoration auf dem kleinen Beistelltisch.
    »Falls er voll sein sollte, bitte die Plastiktüte am Türknauf verwenden«, rief Annie. »Einfach ausleeren.«
     
    Er tat, was sie ihm sagte. Er ging ins Badezimmer, legte die Zigarettenschachtel in den Aschenbecher und stellte den Aschenbecher auf den Badewannenrand.
    »Wozu hast ’n die auf?«
    Sie fuhr mit den Fingerspitzen über die perlmutterne Vintage-Sonnenbrille. »Es ist so schrecklich hell hier im Bad, Felix. Grell geradezu. Könntest du? Meine Hände.«
    An ihrer Unterlippe klebte etwas, scharlachrot übermalt, das aussah wie eine einzelne Frühstücksflocke. Felix schob ihr eine Zigarette in den Mund und zündete sie an. In den paar Monaten, seit er zuletzt hier gewesen war, schienen die Ringe unter ihren Augen breiter und tiefer geworden zu sein, selbst unter der Sonnenbrille schauten sie noch hervor. Der Puder, den sie kiloweise auftrug, klumpte hier und dort und machte alles noch schlimmer. Er bezog auf dem Klodeckel Stellung. Das war weit genug weg. Sie nahm eine kleine Korrektur an ihrer Aufmachung vor – rückte die gewaltige braune Turmfrisur zurecht und ließ ein paar feuchte Strähnen so um ihr geschminktes Gesicht fallen, dass sie es einrahmten. Ihre schmalen Schultern ragten aus dem Schaum hervor, und er kannte jede einzelne bläuliche Ader, jeden braunen Leberfleck. Sie lächelte auf diese gewisse Art, die das Ganze überhaupt erst losgetreten hatte, an dem Tag, als er sie sah, wie sie dem Filmteam ein Tablett mit Tee hoch aufs Dach brachte, das Haar von einem Kopftuch bedeckt wie die Frauen im Krieg. Die schmalen Lippen gebleckt, ein Stück glänzendes Zahnfleisch entblößt.
    »Wie ist es dir ergangen, Annie?«
    »Wie bitte?« Sie legte scherzhaft eine Hand ans Ohr.
    »Wie’s dir ergangen ist.«
    »Wie’s mir ergangen ist? Das ist die Frage, ja?« Die Hand sank wieder in den Schaum zurück. »Wie ist es mir ergangen? Wie ist es mir ergangen? Nun, es ist mir reichlich beschissen ergangen.« Sie aschte, verfehlte den Aschenbecher, bestäubte stattdessen den Schaum. »Allerdings nicht nur, weil du dich in Luft aufgelöst hast, bild dir da bloß nichts ein. Bei der Bezirksverwaltung von Westminster hat man beschlossen, meine Ansprüche erneut zu überprüfen. Weil nämlich irgend so ein aufrechter Bürger

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