London NW: Roman (German Edition)
in den nicht klimatisierten Eckkiosk und verbrachte zehn heiße Minuten in der Schlange, versuchte, an der kleinen Rede zu feilen, die er vorbereitet zu haben glaubte, nur um festzustellen, dass er reichlich wenig vorbereitet hatte. Warum musste er überhaupt herkommen und irgendetwas sagen? Sie spielte keine Rolle mehr. Die Nachricht, wie bedeutungslos sie geworden war, hätte Soho auch ohne sein Zutun erreichen müssen; sie hätte einfach vor die Tür treten und es in der Luft wittern müssen. »Die brauch ich nicht«, sagte die Frau hinter der Theke und gab ihm fünfzig Pence zurück. Hinter ihm seufzte jemand; er ging rasch zur Seite, mit der Verlegenheit eines Londoners, der einem anderen Londoner Unannehmlichkeiten bereitet, und sei es nur für eine Sekunde. Die Schachtel mit den Kippen hatte er in der Tasche. Hier in der Hand hielt er das Wechselgeld. An den Verkaufsvorgang selbst hatte er keinerlei Erinnerung. Er schwitzte wie ein Idiot.
Draußen versuchte er, sich zu beruhigen und wieder in die ausgelassene Stimmung auf der Straße hineinzufinden. Die Sonne stachelte an, verschmolz den Tag mit der Nacht. Junge Schwarze zeigten ihre nackten Oberkörper, als wären sie bereits im Klub. Weiße Jungs trugen Flip-Flops und Cargo-Shorts und tranken Importbier aus der Flasche. Ein Grüppchen tanzte ein wenig im Eingang des G-A-Y , noch auf Autopilot von der Nacht zuvor. Felix kicherte in sich hinein und lehnte sich an einen Laternenpfahl, um sich eine zu drehen. Es kam ihm vor, als würde ihn jemand beobachten und alles notieren – »Felix war ein kerniger Bursche mit dem Herz am rechten Fleck, der das Leben gern an sich vorbeiziehen ließ« –, aber als er mit dieser Fantasterei durch war, blieb ihm sonst nichts mehr zu tun. Ein Wagen mit getönten Scheiben fuhr langsam an ihm vorbei. Er brauchte einen Moment, um das verängstigte Kind im vorübergleitenden Spiegelbild mit dem zusammenzubringen, was er über sein eigenes Gesicht wusste. Er schaute auf, hinüber zu ihrer Tür. Sie war offen; zwei von den Mädels standen auf der Schwelle und plauderten freundlich mit den somalischen Fahrern von nebenan. Felix straffte die Schultern, legte etwas fröhlich Zögerndes in seinen Gang: »Manche Dinge müssen halt einfach getan werden!« Aber kein Lächeln, mit dem er diesen Frauen begegnete, konnte bewirken, dass sie es ihm leicht machten. Chantelle starrte ihn bereits an, als er noch zwanzig Meter weg war. Als er vor ihr stand, verzichtete sie auf jede weitere Begrüßung; mit zwei Fingern fasste sie sein dünnes Kapuzenshirt, befühlte kurz den Stoff und ließ ihn dann wieder los, wie etwas Dreckiges, das sie vom Boden aufgehoben hatte.
»Du siehst ja richtig sommerlich aus. Meine Herren! Mr Sonnenschein.«
»Mir ist das nicht zu warm. Ich bin dünn – ich brauch ’n paar Zusatzschichten.«
»Lange her«, meinte Cherry, die Weiße mit der Leichenbittermiene.
»Viel zu tun.«
»An deiner Stelle würd ich mich ja nicht mit Majestät da oben abgeben; hier unten besorgen wir’s dir besser.«
»Ja, schon klar«, sagte Felix und ließ seine Goldzähne sehen, aber er war sich noch nie sicher gewesen, ob das oben wirklich eine so andere Welt war. Majestät da oben schwor es immer wieder. Sie hatten sich oft deswegen gestritten. Jetzt spielte es keine Rolle mehr.
»Kann ich durch?«
Sie waren beide üppige Frauen und machten sich einen nimmermüden Spaß daraus, nicht zur Seite zu gehen, sodass er sich zwischen ihnen durchzwängen musste. Felix setzte die knochigen Schultern ein.
»Wie Hühnerbeinchen!«
»Haut und Knochen!«
Cherry kniff ihm in den Hintern – noch im dritten Stock hörte er sie gackern. Er umrundete den letzten Geländerpfosten. Klassische Geigen fidelten vor sich hin, im Bad rauschte das Wasser auf vollen Touren. Auf der Schwelle umhüllten ihn Dunstschwaden.
»Felix? Bist du das, Liebling? Es ist offen! Ist Karenin da draußen? Bring den kleinen Stinker mit rein.«
Karenin saß auf der Fußmatte. Felix nahm ihn nachlässig auf den Arm. Der ausladende Körper des Katers verrutschte immer wieder: Es war nicht möglich, Rücken, Bauch und Hals gleichzeitig festzuhalten, eins davon hing immer irgendwie herunter. Felix flüsterte ihm ins Ohr: »Alles klar, K?«, und ging hinein. Der fette Kater auf seinem Arm, dieselben halb vergilbten alten Theaterplakate und Fotos an den Wänden, dieselben Kisten mit Noten für ein nicht vorhandenes Klavier, das noch vor Felix’ Zeit beim Pfandleiher
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