London NW: Roman (German Edition)
wie die Tatsache, dass sie fest vorgehabt hatte, sie anzutreten. (Ein Streit mit Imran, wenige Tage vorher. Er rief sie nicht an, also rief sie ihn auch nicht an.)
76. Über die Stränge
Natalie Blake nahm einen umfangreichen Studienkredit auf und gab das Geld ganz bewusst nur für Luxusgüter aus. Restaurants, Taxis, Unterwäsche. Bei dem Versuch, mit »den anderen« Schritt zu halten, stand sie bald wieder mit leeren Händen da, doch wenn sie jetzt ihre Kreditkarte in den Schlitz schob und hoffte, fünf Pfund abheben zu können, geschah das ohne die bodenlose Angst, die sie früher mit Rodney Banks geteilt hatte. Sie kultivierte ein dekadentes Lebensgefühl. Jetzt, da sie in der Ferne die Möglichkeit einer Zukunft aufschimmern sah, jagte es ihr nicht mehr im gleichen Maß Angst ein, ihr Konto zu überziehen. Das Bild, das Marcia Blake von solchen Menschen vor Augen stand und das sie an ihre Tochter weitergegeben hatte, verschwand unter einer Lawine aus beiläufiger Blasphemie, Dope, Koks und Faulenzerei. Das also waren die Leute, deretwegen die Blakes sich immer so tadellos benommen hatten? In der Tube, im Park, beim Einkaufen. Wozu? Marcia: »Damit wir ihnen keinen Vorwand liefern.«
77. Sichtung!
Verkleidet als Frantz Fanon auf der Treppe bei einer Party, zu der Natalie ihrerseits als Angela Davis erschienen war. Sein Kostüm bestand aus einem Namensschild und einem weißen Kittel, den er sich von einem Medizinstudenten geliehen hatte. Natalie hatte mehr Aufwand betrieben: ein Dashiki und ein wilder Afro, der nicht mehr besonders gut hielt, nachdem er jahrelang mit dem Glätteisen traktiert worden war. Das Kostümfest fand in der WG von vier Philosophiestudenten statt, und das Motto lautete: »Diskursbegründer«. Seine Begleitung kam als Sappho.
78. Theoretische Überlegungen zur Beobachtung von Michelle Holland
Womöglich liegt es am Kapitalismus, der bereits so gründlich von den Köpfen und Körpern der Frauen Besitz ergriffen hat, dass ihr Umgang miteinander stets auf »erbarmungslosem Vergleich« fußt. Natalie Blake jedenfalls verfolgte die Umtriebe von Michelle Holland fast aufmerksamer als ihr eigenes Leben – und zwar, ohne je mit ihr gesprochen zu haben. Abgesehen von Rodney war Michelle der einzige andere Mensch an der Uni, der auch auf der Brayton gewesen war. Ein Mathegenie. Den Luxus der Durchschnittlichkeit kannte sie nicht. Aufgewachsen in den brutalen Hochhaustürmen im Süden Kilburns, für die rein gar nichts sprach, keine stolze Gemeindekultur, keine hübschen Grünflächen wie in Caldwell und auch, vermutete Natalie, keine engen Nachbarschaftsbeziehungen. Wie sollte sie da nicht außergewöhnlich sein? Vater im Knast, Mutter in der Geschlossenen. Bei der Großmutter aufgewachsen. Sie war empfindsam und ehrlich, linkisch defensiv, einsam. Natalie lebte in der Überzeugung, sie, Natalie Blake, brauche kein Wort mit Michelle Holland zu wechseln, um das alles zu wissen – sie brauchte sich bloß anzusehen, wie Michelle sich bewegte, schon wusste sie Bescheid. Ich allein verfasse. Folglich war Natalie auch kein bisschen überrascht, als sie von Michelles Absturz etwa auf der Hälfte des Abschlussjahres erfuhr. Kein Alkohol, keine Drogen, kein schlechtes Benehmen. Sie hörte einfach auf. (So interpretierte es Natalie.) Sie hörte auf, Vorlesungen zu besuchen, zu studieren, zu essen. Man hatte von ihr verlangt, sich ganz durch ein Loch zu quetschen, in das sie nur halb hineinpasste. (So Natalies Schlussfolgerung.)
79. Das Ende der Geschichte
Wenn Natalie jetzt ans Erwachsenenleben dachte (was sie so gut wie nie tat), sah sie einen langen Gang vor sich, von dem zahllose Zimmer abgingen – die alle Freunde beherbergten –, eine Gemeinschaftsküche, ein riesiges gemeinsames Bett, wo alle zusammen schliefen und bumsten, eine Welt, die vom Prinzip der Freundschaft beherrscht wurde. Obiges ist natürlich eine Metapher – aber auch die grundsätzlich zutreffende Darstellung von Natalies damaligem Denken. Denn wie soll man Freunde unterdrücken? Wie soll man Freunde betrügen? Wie soll man Freunde leiden lassen, um selbst Erfolg zu haben? Auf diese schlichte Weise – ganz ohne Protestmärsche und Parolen, ohne Politik und ohne das ganze Durcheinander, das entsteht, wenn man Pflastersteine aus dem Boden reißt – hatte die Revolution Einzug gehalten. Als später Partygast befolgte Natalie Blake endlich begeistert den Rat ihrer guten Freundin Leah Hanwell und fing an, auf der Tanzfläche
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