London
Jagd hin.
Ein normannisches Gesicht voller Sommersprossen, rötliches, mit grauen Strähnen durchzogenes, kurzgeschnittenes Haar. Der Urenkel des Eroberers und obendrein noch ein rastloser Plantagenet. Eine furchterregende Kombination. Graue, durchdringende Augen.
»Wer seid Ihr?«
»Ein Kleriker, Sire. Pentecost Silversleeves.«
»Und warum habt Ihr Euch versteckt?«
»Ich habe mich nicht versteckt, Sire.« Eine dumme Lüge.
Heinrich Plantagenet runzelte die Stirn, durchforschte sein Gedächtnis, erinnerte sich. »Silversleeves. Seid Ihr nicht einer der Unholde, die meinen Waffenschmied angegriffen haben?« Silversleeves wurde kreidebleich, Heinrichs Augen wurden plötzlich härter als Stein. »Warum seid Ihr nicht heute morgen gehängt worden?«
»Ich bin unschuldig, Sire.«
»Wer hat das gesagt?«
»Der Bischof von London, Sire.«
»Ein krimineller Kleriker«, zischte König Heinrich, während sich sein Gesicht vor Zorn rötete. Ein Schurke, der sich unter den Röcken der Kirche vor der Gerechtigkeit des Königs versteckte. Genau solche Geschichten hatten die Beziehung zu seinem alten Freund Becket getrübt.
Und dann hatte Silversleeves die Ehre, ein weiteres Charakteristikum zu beobachten, für das die Familie des Königs so berühmt war: einen Wutanfall in der Manier der Plantagenets.
»Viper!« Das Gesicht König Heinrichs lief dunkelrot an, und auch seine Augen waren blutunterlaufen. »Du langnasiger Sohn einer Hure! Du heuchlerischer, halbgarer Priester! Glaubst du, daß du dem Galgen entkommen bist? Glaubst du, daß du den König betrügen kannst, du eklige Kröte? Glaubst du das wirklich?«
»Nein, Sire«, stammelte Pentecost.
»Gut! Denn das wirst du auch nicht, das verspreche ich dir! Ich persönlich werde dafür sorgen, daß dein Fall wieder aufgerollt wird. Ich werde dich unter dem Gewand des Bischofs hervorzerren! Du wirst meine Gerechtigkeit schon noch zu spüren bekommen, du Abschaum. Du wirst den Tod riechen!« Letzteres war nicht laut gerufen, sondern aus vollster Kehle gebrüllt, so daß es überall in den hohen Räumen widerhallte.
Pentecost Silversleeves drehte sich um und floh aus der Halle, vorbei am Court of Common Pleas, wo zivile Angelegenheiten ausgetragen wurden, vorbei an Säulenreihen, vorbei am Court of the King's Bench, dem Gericht für Kronangelegenheiten, durch die große Eingangspforte hindurch in den Innenhof, vorbei an der Abtei, über den Tyburn-Fluß. Er floh an den Ufern der Themse entlang nach Aldwych und darüber hinaus. Er floh am Tempel der Ritter des Templerordens vorbei und über den Fleet-Fluß hinweg. Er lief den Ludgate-Hügel hinauf. Er floh in das Sanktuarium von St. Mary-le-Bow, und dort saß er gut eine Stunde lang und zitterte wie Espenlaub.
An einem warmen Nachmittag gegen Ende September saßen ein Mann und eine Frau still auf einer Bank vor einem großen Gebäudekomplex am östlichen Rand von Smithfield. Sie warteten. Der Mann, der eine graue Kutte und Sandalen trug, war Bruder Michael.
Die Frau, Anfang Zwanzig, wirkte eher alterslos. Sie war kurz und gedrungen; ihr Gesicht spiegelte anhaltend freundliche Entschlossenheit wider; ihr linkes Auge schielte; nur ihr rotes Haar, das sie streng zurückgekämmt trug, gab einen kleinen Hinweis darauf, daß sie der dänischen Familie Barnikel angehörte. Sie trug graue Nonnentracht. Sie hieß Schwester Mabel.
Die Gebäude hinter ihnen waren vergleichsweise neu. Vor weniger als fünfzig Jahren hatte ein Höfling, vom König für seinen Witz und seine Schlagfertigkeit geschätzt, plötzlich eine Vision, kehrte der Welt den Rücken und gründete ein Priorat und ein Krankenhaus, das er dem Heiligen Bartholomäus widmete. Die Priorei war reich und stattlich, das Krankenhaus sehr einfach. Diesem St. Bartholomew's Hospital gehörten Bruder Michael und Schwester Mabel an.
»Vielleicht kommt er ja doch nicht«, sagte Schwester Mabel. Sie hatte keine Angst um sich selbst, sondern um den sanften Bruder Michael. »Du mußt aufpassen«, warnte sie ihn noch einmal. »Er hat ein schwarzes Herz.«
»Er wird schon kommen«, sagte Bruder Michael gelassen. »Mutter wird ihn dazu bringen. Ich habe keine Angst, Schwester Mabel, denn du beschützt mich ja.«
Mabel Barnikel war die Schwester des Fischhändlers, der unabsichtlich dem Schiff von Alderman Bull einen schweren Schaden zugefügt hatte. Viele Leute lachten über sie, doch sie taten ihr unrecht, denn sie war eine gute Seele. Von klein auf hatte sie immer
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