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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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wenn ich nicht meinem Gewissen gehorchen kann? Es zeigte sich ihm nur ein einziger Weg, und so ging er eines Tages zum Abt und erklärte ruhig, daß er den Orden verlassen wolle.
    »Dies alles tun wir doch nur zum Ruhme Gottes«, erläuterte ihm der Abt. »Wenn wir Geschichte schreiben oder vom Leben der Heiligen berichten, soll dies doch nur den göttlichen Plan illustrieren, damit die Menschen ihn besser verstehen können. Wenn es Gottes Wille ist, daß die Rechte und das Alter dieser Abtei bekannt werden, tun wir recht daran, den Beweis zu liefern, um die sündigen Menschen von der Wahrheit zu überzeugen.«
    Doch Michael war nicht dieser Meinung. Der gesunde Menschenverstand seiner sächsischen Vorfahren stand ihm im Weg. Entweder es war eine alte Urkunde oder nicht. Entweder es war Wahrheit oder Lüge. »Es tut mir leid, aber ich möchte gehen«, wiederholte er.
    »Und wohin willst du gehen?«
    Auch darum hatte Bruder Michael sich bereits gekümmert, wie er dem Abt gesenkten Hauptes erklärte. Der Abt starrte ihn erstaunt an und erklärte: »Du bist verrückt.«
    Die Menge verstummte. Auf ein Zeichen des Gerichtsdieners nahm der junge Henry Le Blond zögernd den Umhang von seinen Schultern und trat vor. Obwohl es ein warmer Sommermorgen war, zitterte er. Pentecost Silversleeves stand versteckt in der Menge und beobachtete entsetzt das Geschehen.
    Der Ort, an dem es stattfand, war eine große offene Fläche vor der nordwestlichen Ecke der Stadtmauer. Am westlichen Rand senkte sich der Boden hinab zum Flußbett des Holborn. In der Mitte des Platzes stand eine Gruppe von Ulmen, vor denen sich eine Pferdetränke befand.
    Smithfield hieß dieser Ort. Samstags fand hier meist ein Pferdemarkt statt, und manchmal gab es bei den Ulmen Hinrichtungen. An der Pferdetränke, neben der nun etwa vierhundert Leute standen, wurden manche wichtige Rechtsangelegenheiten abgewickelt.
    Am Rand des Wassers standen neben Le Blond, der bis auf einen Lendenschurz nackt war, zwei weitere junge Männer, zwei Gerichtsdiener, ein Dutzend Aldermen, ein Sheriff und der Justitiar von England höchstpersönlich. Ein Handwerksmeister war angegriffen, einer seiner Lehrlinge getötet worden. Die Schuldigen waren alle bekannt, denn in der Hoffnung, ungeschoren davonzukommen, hatten sie sich als Kronzeugen aufstellen lassen und sich gegenseitig beschuldigt. Das Verbrechen hatte sich in der Nacht ereignet, in der der Prinz gekrönt worden war. König Heinrich war so erbost, daß er seinem Stellvertreter befohlen hatte, sich persönlich um die Angelegenheit zu kümmern. »Ich will sie alle in drei Tagen verurteilt sehen«, hatte er gefordert.
    Nun fesselten die Gerichtsdiener auf ein Nicken des Justitiars hin die Hände des jungen Mannes hinter seinem Rücken und banden seine Füße zusammen. Dann ergriffen sie ihn bei den Knöcheln und den Schultern, hoben ihn hoch und begannen, ihn hin- und herzuschwingen. »Eins!« schrie die Menge. »Zwei! Drei!« Le Blonds Körper flog durch die Luft und fiel ins Wasser.
    Henry Le Blond kämpfte um sein Leben.
    Es gab viele verschiedene Arten von Prozessen in England. Bei zivilen Streitigkeiten konnten die Freien eine Geschworenenverhandlung vor den unparteiischen Gerichtshöfen König Heinrichs beantragen, doch ernste Vergehen wie Mord oder Vergewaltigung, auf die die Todesstrafe stand, waren der göttlichen Gerechtigkeit unterstellt; es wurde ein Gottesurteil verlangt. Frauen mußten in so einem Fall oft ein glühendheißes Eisen anlangen, und dann beobachtete man, ob die Verbrennungen heilten, was auf Unschuld hinwies, oder in Wundbrand übergingen, was Schuld bedeutete. Männer wurden meist dem schnelleren Verfahren zugeführt – das Gottesurteil wurde vom Wasser gefällt. Wenn Le Blond nicht unterging, war er schuldig. Dieses Gottesurteil zu überleben war schwierig. Um seine Unschuld zu beweisen, mußte man untergehen, und dies ging am besten, wenn man sein Gewicht verringerte und tief ausatmete; doch wenn man dann nicht schnell genug wieder herausgefischt wurde, ertrank man. Ängstliche Männer atmeten instinktiv tief ein und trieben auf dem Wasser. Die Menge sah schweigend zu. Dann ertönte ein Aufschrei. Henry Le Blond ging nicht unter.
    Ich sollte dort bei den anderen stehen, dachte Pentecost Silversleeves. Aber er war frei; er war ja ein Mann der Kirche.
    Von allen Privilegien der Kirche war keines nützlicher als das Recht eines jeden Klerikers, der kirchlichen Gerichtsbarkeit unterstellt zu werden,

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