London
Krankenhaus. Das St. Bartholomew's Hospital war völlig getrennt von der Priorei. Die hier tätigen Brüder und Schwestern waren keine Kanoniker, sondern einfache Leute. Das Hauptgebäude war ein langer, schmuckloser, ziemlich enger Schlafsaal, der einem Klostergang ähnelte. Am Ende des Raumes befand sich eine einfache kleine Kapelle.
Wie die meisten Krankenhäuser in jener Zeit hatte auch das St. Bartholomew's als Hospiz angefangen, als Ort, an dem sich müde Reisende und Pilger ausruhen konnten. Dies hatte sich rasch geändert. Inzwischen gab es hier drei Blinde, ein halbes Dutzend Verkrüppelte, mehrere senile, alte Frauen. Es gab Männer mit Fieber, Frauen mit Furunkeln, Kranke und Leidende. Wie es damals Sitte war, lagen oft zwei oder drei, ja sogar noch mehr Kranke in einem Bett. Der Alderman blickte sich entsetzt um. Was tat er hier? Und was tat sein Bruder, der die Familienehre in einem angesehenen Kloster hätte aufrechterhalten können, an so einem widerlichen Ort?
Als sie wieder in den Sonnenschein hinaustraten, nahm Bruder Michael ihn sanft am Arm und zog ihn ein paar Schritte weg von Mabel. »Mein lieber Bruder«, sagte er, »ich bin sicher, daß unsere Mutter dich dazu gebracht hat, doch trotzdem bin ich sehr gerührt, dich hier zu sehen. Du mußt mir verzeihen, daß ich versuche, deine unsterbliche Seele zu retten.«
Bull grinste hämisch. »Du glaubst also, daß ich zur Hölle fahren werde? Aber wenn ich Bocton nicht kaufe, wird es ein anderer tun.«
»Doch es bleibt Unrecht.«
Sie hatten wieder kehrtgemacht und näherten sich Mabel. »Du vergeudest deine Zeit, Bruder«, sagte Bull. »Ich habe keine Angst vor der ewigen Verdammnis. Tatsache ist, daß ich nicht an Gott glaube.«
Dies war keine besonders schockierende Feststellung, auch wenn es Mabel fast den Atem verschlug. Selbst in jenen sehr religiösen Zeiten gab es zahlreiche Männer, die ihre Zweifel hatten. Vor zwei Generationen hatte König Wilhelm Rufus kein Hehl aus seiner tiefverwurzelten Skepsis gegenüber der Kirche und ihren religiösen Ansprüchen gemacht. Denker und Prediger bemühten sich ständig um Beweise für die Existenz Gottes. Bulls Ansicht, daß die Kirchen mit all ihren Stiftungen, ihren speziellen Gerichten und den über die Jahrhunderte erfolgten Zugewinnen nicht mehr waren als die Schöpfung von Menschen, bezeugte immerhin eine gewisse furchtlose, wenn auch brutale Ehrlichkeit, die sich von der seines Bruders gar nicht so stark unterschied.
Mabel sah dies natürlich nicht so. Sie wußte, daß Bull seinen vergeistigten Bruder verachtete; sie wußte, daß er vorhatte, einen Kreuzritter mit Hilfe eines Juden zu berauben. Nun hatte sie den letzten Beweis für seine abgrundtiefe Bosheit.
Bruder Michael schätzte besonders an Mabel, daß sie immer sagte, was ihr auf der Zunge lag. Doch selbst er war nun ein wenig verblüfft, als sie den stämmigen Alderman mit ihrem nicht schielenden Auge fixierte und laut und deutlich sagte: »Ihr seid ein schlechter Mensch und werdet mit den Juden zur Hölle fahren! Ihr solltet Euch schämen! Warum gebt Ihr nicht dem Krankenhaus Geld, anstatt Pilger auszurauben, die sehr viel besser sind als Ihr?«
Seit Monaten hatte sich Bull die Klagen seiner Mutter anhören müssen, und nun wurden ihm nicht nur von Michael Vorträge gehalten, sondern er wurde auch noch von dieser Verrückten angegriffen, deren Bruder beinahe sein Schiff zerstört hatte. Das war wirklich zu viel! Das Blut stieg ihm in den Kopf, und er fing an zu brüllen: »Verflucht seien euer Krankenhaus und eure alten Weiber, die sich in ihrem eigenen Dreck wälzen! Verflucht seien eure Mönche und eure blöden Kreuzritter und eure heuchlerischen Priester! Das eine sage ich dir, Bruder, wenn ich jemals eine Religion brauche, dann werde ich ein Jude.«
Dies war nicht sehr originell, es war genau dasselbe, was König Wilhelm Rufus einmal zu tun gedroht hatte, als ihn ein paar Bischöfe mit ihren Beschwerden allzusehr langweilten. Doch es schockierte Mabel. Und er war noch nicht fertig. »Du bist als Dummkopf auf die Welt gekommen, Michael. Du verdienst kein Geld, weil du dich zur Armut verpflichtet hast. Du hast keine Frau, weil du ein Keuschheitsgelübde abgelegt hast; du denkst nicht einmal für dich selbst, weil du Gehorsam geschworen hast. Und wofür?« Einer plötzlichen Eingebung folgend, setzte er noch hinzu: »Im übrigen glaube ich nicht, daß du deine blöden Gelübde einhalten wirst. Nun sage ich dir, was ich tun werde,
Weitere Kostenlose Bücher