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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Glück.
    »Das sind Menschenseelen«, erwiderte das Wesen mit einer nasalen Stimme.
    »Sind sie tot?«
    »Nein. Sie leben noch. Die vorderen kommen in den Himmel. Doch die hier«, und damit zeigte er auf einen aufgedunsenen Mönch, »sind auf ihrem Weg zur Hölle.«
    »Haben sie denn so schreckliche Sünden begangen?« fragte Mabel.
    »Nicht alle. Manche werden sie erst noch begehen. Wir führen sie in Versuchung und dann in die Verdammnis.« Er ging weiter.
    »Werden auch welche gerettet werden?« rief sie ihm hinterher.
    »Ein paar«, hörte sie ihn mit rauher Stimme sagen. »Freilich nur sehr wenige.«
    Eine Weile lang beobachtete sie die verlorenen Pilger, die sich da an ihr vorbeidrängten. Sie sah zahlreiche Menschen, die sie kannte, und murmelte für jeden ein Gebet. Sie wollte sie auch warnen, doch sie schienen sie nicht zu hören. Dann sah sie Alderman Bull. Er saß verkehrt herum auf einem Pferd. Seine Kleidung war rot, wie immer, doch sein Gesicht und seine Hände waren von eitrigen Wunden übersät. Zweifellos war er auf dem Weg in die Hölle. Nur wenige Schritte hinter dem Alderman ging Bruder Michael mit seinem blassen Gesicht. Er ging gesenkten Kopfes, wohl aus Trauer und Scham. Seine Augen schienen auf etwas vor ihm gerichtet zu sein. Was hatte er nur getan? fragte sich Schwester Mabel. Sie rannte neben der Prozession her und rief immer wieder seinen Namen. Einmal kam es ihr vor, als habe er sie gehört und wolle den Kopf heben, doch dann senkte er ihn wieder, wie von einer unsichtbaren Kraft dazu gezwungen, und setzte seinen Weg fort.
    Sie stand fassungslos am Wegrand. Sie konnte einfach nicht glauben, daß Bruder Michael eine böse Tat begangen hatte. Würde er noch eine Sünde begehen? Und da kam ihr ein Gedanke: Wenn er in die Hölle gehen muß, dann muß ich es sicher auch. Sie suchte unter den vorüberziehenden Seelen nach sich selbst, konnte sich jedoch nicht sehen. Dann verschwand die Vision.

DER BÜRGERMEISTER
1189
    IM SOMMER 1189 war König Heinrich II. von England gestorben, und da der von ihm gekrönte Erbe schon in den Tod vorausgegangen war, folgte sein zweiter Sohn Richard auf den Thron.
    Es begann eine Zeit, die in den Bereich der Legenden eingegangen ist. Denn welche historische Legende ist wohl bekannter als die von Robin Hood und dem geldgierigen Sheriff von Nottingham, vom guten König Richard, der auf einem Kreuzzug außer Landes weilte, und seinem bösen Bruder Johann? Aus tatsächlichen Ereignissen ist ein nettes Märchen entstanden. Doch was sich wirklich in diesen Jahren ereignete, ist noch interessanter als das Märchen. Es ereignete sich hauptsächlich in London.
    Neuigkeiten verbreiteten sich rasch, wo immer er sich aufhielt. Eines Morgens im August hatte sich eine kleine Menge vor dem schönen neuen Tor versammelt, um der Ankunft des Königs beizuwohnen. Niemand war so aufgeregt wie der Junge, der ganz vorne stand.
    David Bull sah fast genauso aus, wie sein Vater Sampson mit Dreizehn ausgesehen hatte: hellhaarig, mit einem breiten, rosigen Gesicht und klaren blauen Augen, die nun vor Aufregung funkelten.
    Sie standen vor der Eingangspforte zum Tempel. Von allen kirchlichen Gebäuden, die in der ganzen Stadt entstanden, war keines so stattlich wie die der beiden geistlichen Ritterorden. Diese militärisch-religiösen Organisationen hatten sich zum Schutz derjenigen verpflichtet, die in den Heiligen Krieg zogen. Nördlich von Smithfield hatten sich die Ritter des Heiligen Johannes angesiedelt, die sich um die Krankenhäuser kümmerten; hier, etwa auf der Hälfte des Weges, der von St. Bride's Richtung Westen nach Aldwych führte, lag das Gelände des mächtigen Templerordens, der für große Mengen Geld und Nachschub sorgte. Die erst vor kurzem errichtete massive Steinkirche erkannte man sofort aufgrund ihrer Form – wie alle Kirchen dieses Ordens war sie nicht rechteckig, sondern rund. Aus dieser Kirche würde nun gleich der größte Held der Christenheit heraustreten: König Richard Löwenherz.
    Ein Krieger war zu allen Zeiten ein Held. In den letzten Jahrzehnten hatte sich in der Welt der Ritter jedoch einiges verändert. Die Kreuzzüge gaben dem Ritter eine religiöse Berufung. Der neue Zeitvertreib, der auf dem Festland entstanden war, die Ritterturniere, brachte zusätzlichen Prunk, und aus den Höfen in der Provence und aus Aquitanien kommend entstand eine Vorliebe für Balladen und Geschichten über die höfische Liebe. Man pflegte die höfischen Manieren, die

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