London
stellten sie zu ihrem Erstaunen fest, daß der stolze Prälat unter seiner Kleidung das rauhe Haarhemd eines Büßers trug. Nun sahen sie ihn plötzlich in einem anderen Licht. Der Kanzler, der zu einem Kirchenmann geworden war, der unerwartete Märtyrer, war nicht das, was er zu sein schien. Er hatte seinem früheren weltlichen Leben viel gründlicher entsagt, als die Leute geglaubt hatten. »Er war also tatsächlich ein echter Büßer«, riefen alle. Ein Sohn der Kirche.
Die Kunde verbreitete sich rasch; London ließ den Kaufmannsohn zum Märtyrer ausrufen; bald wurde in ganz England die Forderung laut, ihn zum Heiligen zu erklären. Der Papst, der die Mörder und ihre Komplizen bereits exkommuniziert hatte, schenkte der Forderung Gehör.
Für König Heinrich II. war es eine Katastrophe. »Wenn er nicht selbst die Schuld trägt, so doch zumindest die Verantwortung«, erklärten die wichtigsten Kirchenmänner. Um dem wachsenden Sturm zu entkommen, begab sich Heinrich rasch zu einem Feldzug nach Irland. Zum Thema Kirchenprivilegien, über das er mit Becket so lange gestritten hatte, schwieg König Heinrich beharrlich.
Im Herbst 1171 herrschte große Freude im Haus der Silversleeves. »Ich habe mit dem Justitiar und dem Bischof von London persönlich gesprochen«, verkündete Pentecosts Vater. »Der König hat seinen Streit mit der Kirche beigelegt. Du bist in Sicherheit. Du kannst sogar zum Exchequer zurück.« Zum erstenmal seit vielen Generationen segneten sie den Namen Becket.
Schwester Mabel zweifelte nie daran, daß die Welt voller Wunder war. Die göttliche Vorhersehung war für sie überall spürbar. Die erstaunliche Enthüllung, daß Becket eigentlich ein Heiliger war, war für sie nur ein weiteres Beispiel für einen Prozeß, der um so phantastischer war, weil sie ihn nicht erklären konnte. Selbst Alderman Bulls wütendes Versprechen an seinen Bruder, das der Mönch nicht wörtlich genommen hatte, war für sie ein Gegenstand des Glaubens. Sie wußte, daß Bruder Michael gut war. »Du wirst schon sehen«, versicherte sie ihm, »das Krankenhaus wird die Erbschaft erhalten.«
Doch selbst Schwester Mabel staunte über das außergewöhnliche Ereignis an einem hellen, warmen Aprilmorgen 1127.
Sie war drüben in Aldwych gewesen und lief gerade über die freie Fläche von Smithfield, als sie ein höchst ungewöhnliches Spektakel sah, eine Prozession, die am westlichen Rand von Smithfleld entlangzog. Eine großartige Gesellschaft von Rittern und vornehmen Damen auf reich geschmückten Pferden führte sie an. Spielmänner mit Flöten und Tamburinen liefen an der Seite. Weiter hinten folgte ein langer Zug von einfachen Leuten. Wer waren all diese Menschen? Sie versuchte, einen der vorbeireitenden Männer zu fragen, aber er ritt einfach weiter, als habe er sie nicht gesehen.
Kurz vor dem Stadttor verschwand die funkelnde Gesellschaft. Pferde und Reiter lösten sich auf, als seien sie in einen unsichtbaren Nebel geraten. Als Mabel sich zu den an ihr vorbeireitenden Pferden umdrehte, merkte sie, daß ihre Hufe kein Geräusch verursachten.
Da verstand sie – es war eine Vision.
Sie hatte natürlich schon von solchen Visionen gehört, jedoch nie erwartet, selbst einmal eine zu haben. Überrascht stellte sie fest, daß sie keine Angst hatte. Die Reiter, die fast so wirkten, als könne sie sie berühren, schienen in einer eigenen Welt zu sein. Sie bemerkte, daß einige von ihnen auch ganz einfache Leute waren. Sie sah sogar einen ihrer Patienten aus dem Krankenhaus in einem schimmernden weißen Gewand, dessen bleiches, schmales Gesicht seltsam heiter wirkte.
Nach einer Weile waren die Reiter alle vorüber, nun kam die Masse des Fußvolks hinterher, vom wütenden Fischweib bis hin zum heruntergekommenen Lord. Sie trugen abgerissene Kleider, ihre Gesichter waren leer. Neben ihnen liefen die sonderbarsten Wesen, die Mabel jemals gesehen hatte. Sie ähnelten Menschen, aber sie hatten lange Beine wie die eines Vogels, mit Klauen statt Füßen, und geschwungene Schwänze. Sie staksten neben der Menge her und trieben ab und zu ein paar Leute mit den Dreizacken an, die sie in ihren sehnigen Händen hielten. Zwar hatten ihre scharfgeschnittenen, harten Gesichter menschliche Züge, doch die Haut war bei manchen rot, bei manchen grün, bei manchen gesprenkelt. »Das müssen Teufel sein«, murmelte Mabel. Sie trat einem dieser Wesen in den Weg und fragte: »Was ist das für eine Prozession?« Und diesmal hatte sie mehr
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