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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Jahren war er immer wieder einmal von Frauen in Versuchung geführt worden, aber mit der Zeit war ihm das keusche Leben zu einer angenehmen Gewohnheit geworden. Seine Arbeit machte ihm viel Freude. Als er die Vierzig überschritten hatte, glaubte er, daß er endgültig gefeit sei. Warum also zögerte er nun an der Schwelle des Hauses seines Bruders? Wollte sein Instinkt ihn vor drohender Gefahr warnen?
    Nach der Krönung war Sampson Bull noch zum Gottesdienst in die Westminsterabtei gegangen; danach feierte König Richard mit seinem Hof in der Westminsterhalle, und Bull ging zu einem bescheideneren Mahl, zu dem er auch seinen Bruder eingeladen hatte, nach Hause.
    Es herrschte eine recht angenehme Stimmung. Zwar bemerkte Bruder Michael, daß sein Neffe ihn immer wieder einmal ungeduldig anstarrte, aber er hatte keine Eile. Er saß zwischen seiner Mutter und Ida und freute sich, die alte Frau unterhalten zu dürfen, wenn auch sein Blick immer wieder unwillkürlich zu Ida hinüberwanderte. Ob sie mit seinem grobschlächtigen Bruder glücklich werden würde? Er konnte nicht recht erkennen, was in ihr vorging. Erst gegen Ende des Mahls brachte er das Gespräch endlich auf den Kreuzzug.
    Zu seiner Überraschung wirkte Bull überhaupt nicht verärgert. Das Kreuzzugsfieber hatte seinen Höhepunkt erreicht. Er wußte, daß junge Burschen in Davids Alter oft eine Leidenschaft für alles Religiöse überkam, die jedoch meist wieder verschwand, und wenn der Junge abenteuerlustig war, sollte es ihm recht sein. »Du willst also ins Heilige Land, David?« fragte er nur.
    Da bekam David Hilfe von einem unerwarteten Verbündeten. Je besser Ida den Jungen kennenlernte, desto lieber wurde er ihr. Der Gedanke, ihn auf so einem gefährlichen Kreuzzug zu verlieren, erfüllte sie zwar mit großem Schrecken, doch als Tochter eines Ritters verstand sie den Jungen. Erst gestern hatte er ihr sein Geheimnis anvertraut, woraufhin sie erwidert hatte: »Du bist aber noch ziemlich jung!« Diesen Einwand hatte sie sofort bedauert, als sie sah, wie er vor Scham errötete. Nun warf sie also mit ruhiger Stimme ein: »Ich glaube, du solltest ihn gehen lassen.«
    Bull runzelte die Stirn und bemerkte dann mit einer Spur von Grausamkeit: »Obwohl du wegen eines Kreuzzuges gegen deinen Willen verkauft worden bist, befürwortest du solche Unterfangen?«
    »Es geht doch hier ums Prinzip«, erwiderte sie stolz und schenkte Bruder Michael ein sanftes Lächeln.
    Wie wunderschön sie war, dachte dieser, wie edel! Wie kostbar sie hier unter dem Dach dieses Kaufmannshauses wirkte mit ihrem blassen Gesicht und, ihren großen, braunen Augen! Er merkte, daß auch der junge David sie bewundernd anstarrte.
    Diese Bewunderung brachte Ida dazu, einen dummen Fehler zu begehen. Mit einer Spur von Verachtung in der Stimme sagte sie, zu ihrem Mann gewandt: »Aber weil es um Prinzipien geht, kannst du es natürlich nicht verstehen.«
    Sofort merkte sie, daß sie mit dieser Beleidigung zu weit gegangen war. Bulls Gesicht begann sich zu röten.
    »Nein«, erwiderte er dumpf, »das kann ich natürlich nicht.« Die Adern auf seiner Stirn traten hervor. Bruder Michael und David warfen sich ängstliche Blicke zu. Sie begann zu zittern, denn ihr wurde klar, daß sie nun gleich einen der berüchtigten Wutausbrüche des Kaufmanns erleben würde. Doch in eben diesem Moment stürmte ein Diener in die Halle und schrie: »Herr! In der Stadt gibt es Krawalle!«
    Männer rannten durch die Straßen. Bruder Michael eilte die Ironmonger Lane hinauf, von deren Ende er laute Schreie hörte. Eines der strohgedeckten Holzhäuser stand in Flammen. Er stolperte über einen toten Mann, der mitten auf der Straße lag. Dann kam er zu der Menschenmenge – etwa hundert Leute, Männer, Frauen und Kinder, hatten sich hier versammelt. Manche von ihnen waren Gesindel, aber er sah auch zwei achtbare Kaufleute, die er kannte, Lehrlinge, die Frau eines Schneiders und einige junge Kleriker. Sie brachen die Tür eines Hauses ein. Eine rauhe Stimme brüllte: »Laßt ihn nicht entkommen! Auf zur Rückseite!« Als er einen der Kaufleute fragte, was denn hier los sei, erwiderte der Mann: »Sie haben den König in Westminster angegriffen. Aber wir werden sie schon zu fassen kriegen.« Es ging um die Juden.
    Der Auslöser für den Londoner Aufstand 1189 war ein dummes Mißverständnis. Während Richard und seine Ritter tafelten, waren die Führer der jüdischen Gemeinde in den besten Absichten zum Westminsterpalast

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