London
daß sie gleich darauf wieder in Bulls Haus zurückkehren konnte.
Auf Sampsons Gesicht lag nur eine deutlich erkennbare Regung: Zufriedenheit. Dadurch, daß er Bocton wieder in seine Hände bekommen hatte, hatte sich für Bull ein lebenslanger Traum erfüllt, und seine Ehe mit Ida war die Krönung dieses Traumes. Er wollte sich nun wieder einen Weg in die normannische Oberschicht bahnen, aus der er verdrängt worden war. Er war nicht der einzige. Mehrere andere Londoner Kaufleute hatten solche Verbindungen geschlossen. »Und eines Tages«, erklärte er dem jungen David, »kann sie uns helfen, für dich ein Edelfräulein zu finden.« Vielleicht würden die Bulls schon in der nächsten Generation mehr Land besitzen als je zuvor. Kein Wunder, daß Bull höchst zufrieden war.
Bulls Mutter wirkte auf Ida wie eine freundliche, fromme alte Frau, aber offensichtlich hatte sie nicht die Gewohnheit, viel zu reden. Der Junge, David, der sie immer so schüchtern anstarrte, kam ihr erfreulicher vor. Sie erkannte gleich, daß er ein tapferer, freimütiger kleiner Kerl war, der sicher sehr einsam war. Als sie ihm sanft zu verstehen gab, daß es ihr leid tat, daß er seine Mutter verloren hatte, und daß sie hoffte, ihre Stelle einnehmen zu können, sah sie, wie seine Augen feucht wurden, was sie sehr bewegte.
Die eigentliche Überraschung in der Familie war Bruder Michael. Wie erstaunlich, daß dieser grobschlächtige Kaufmann so einen Bruder hatte! Als sie in Michaels freundliche, intelligente Augen blickte, mochte sie ihn auf der Stelle. Sie erkannte seine Reinheit. Da sie Männer der Kirche schon immer bewundert hatte, bat sie ihn, sie doch recht bald wieder zu besuchen, woraufhin der Mönch errötete.
Doch die ehelichen Pflichten blieben ihr nicht erspart, und hier ging Sampson Bull sehr schlau vor. Er wußte sehr wohl, wie widerwillig Ida diese Ehe eingegangen war, betrachtete dies jedoch als Herausforderung. Als sie in ihrem Schlafzimmer allein waren, ließ er sich viel Zeit. In der ersten Nacht ließ Ida den Kaufmann schweigend tun, was er tun mußte, denn sie war sich ihrer neuen Lage durchaus bewußt und wußte auch, daß nebenan der Junge schlief. In der zweiten Nacht biß sie sich schweißgebadet auf die Lippen. In der dritten stieß sie laute Lustschreie aus. Nachdem sie eingeschlafen war, betrachtete der Kaufmann ihren blassen Körper mit grimmigem Vergnügen und murmelte leise: »Jetzt, Lady, ist Eure Schande komplett!«
Am Morgen des dritten September 1189 wurde König Richard I. von England in der Westminsterabtei gekrönt, wenn auch unter einem ungewöhnlichen Umstand: Weil der galante Kreuzfahrerkönig plötzlich Angst hatte, die heiligen Riten könnten durch Hexerei verdorben werden, hatte er am Vortag befohlen, daß zur Krönung keine Juden und keine Frauen zugelassen werden durften.
Vor der Türschwelle seines Bruders blieb Michael zögernd stehen. Warum nur hatte er versprochen, das Thema Kreuzzug anzuschneiden? Er wußte doch, daß es seinen Bruder nur wütend machen würde.
Die Beziehung zwischen den Brüdern hatte sich in den letzten Jahren gebessert. Auch wenn Sampson nach wie vor respektlos war, schien er sich doch mit dem Leben seines Bruders abgefunden zu haben. Eines Tages hatte die Mutter Michael zu sich rufen lassen und eine beträchtliche Geldsumme in seine Hände gelegt. »Ich möchte, daß du es für die Familie verwendest, jedoch nur für religiöse Zwecke«, hatte sie gesagt. »Behalte das Geld, bis du weißt, was du damit anfangen kannst. Gott wird dir sicher einen Weg zeigen.« Michael hatte erwartet, daß sein Bruder Einspruch erheben würde, doch der Alderman hatte nur gelacht, als er davon erfuhr. Als nun vor einem Jahr Bulls Frau gestorben war und Bruder Michael fast täglich vorbeigekommen war, um ihn und David aufzuheitern, hatte Bull eines Tages mit einem entschuldigenden Blick bemerkt: »Ich muß schon sagen, Bruder, du benimmst dich wirklich anständig!« Nein, eigentlich wollte er jetzt wirklich keinen Streit anfangen.
Aber da war noch etwas anderes.
Es waren nun fast zwanzig Jahre seit der groben Herausforderung vergangen, vor die sein Bruder ihn gestellt hatte. »Ich glaube nicht, daß du deine blöden Gelübde einhalten kannst!« Aber er hatte es getan. Sein Armutsgelübde war ohnehin leicht einzuhalten gewesen; in St. Bartholomew's gab es keinen Reichtum. Auch der Gehorsam war ihm nicht schwergefallen. Mit der Keuschheit war es schon schwieriger. Vor allem in jungen
Weitere Kostenlose Bücher