London
einmal die Rinde entfernt, und deshalb waren diese Äste zwar immens stark, doch keineswegs gerade. Infolgedessen wirkten diese mit Balken gestützten Häuser schief, so, als würden sie gleich einstürzen. Tatsächlich aber überdauerten sie Jahrhunderte, solange sie nicht abbrannten. Dies war die größte Gefahr. In eben diesem Jahr war eine Bestimmung erlassen worden, daß alle Bürger das Erdgeschoß ihrer Häuser aus Ziegeln oder Steinen errichten und das Stroh auf den Dächern durch Dachziegel ersetzen sollten. Doch Sampson Bull hatte erklärt, daß er sich damit Zeit lassen würde; so ein Umbau kostete viel Geld.
Obwohl Ida daran gewöhnt war, ein großes Anwesen zu leiten, stellte sie fest, daß sie alle Hände voll zu tun hatte, denn ihr Mann erwartete von ihr, daß sie sich auch für seine Geschäfte interessierte. Bald blickte sie mit einem kundigen Auge auf Wollhaufen, Stoffballen und importierte Seide. Die Diener, froh, wieder eine Herrin zu haben, machten ihr keine Schwierigkeiten. Ihre größte Freude war der junge David. Untertags besuchte er die Schule bei St. Paul's, aber abends setzte er sich zu ihr. Sie hörte ihm freundlich zu, und bald weihte er sie in all seine Geheimnisse ein. Sie stellte fest, daß es ihr Spaß machte, dem Jungen eine Mutter zu sein.
Und dann war da auch noch Bruder Michael. Ida beharrte darauf, daß er einmal die Woche eine Mahlzeit bei ihnen einnahm, und insgeheim wünschte sie sich, er würde öfter kommen.
Dieser neue Lebensrhythmus wurde von Bulls plötzlicher Ankündigung unterbrochen, daß sie für ein paar Tage nach Bocton reisen würden. Als sie am Ende eines langen Tages dort ankamen, stellte Ida sofort fest, daß ihr der Ort gefiel. Der Ritter, der dort gelebt hatte, hatte eine bescheidene, steinerne Halle mit einem hübschen Hof und großen, hölzernen Nebengebäuden hinterlassen. Es erinnerte sie an ihr früheres Heim. Als sie am nächsten Morgen, kaum daß die Sonne aufgegangen war, den herrlichen Ausblick auf den Weald von Kent sah, war sie hellauf begeistert. »Bis König Wilhelm kam, war dieser Ort immer im Besitz unserer Familie«, bemerkte Bull. In diesem Moment fühlte sich Ida fast verwandt mit ihm. Dennoch hatte sie gemischte Gefühle. Sie war froh, daß Bull so ein Landgut besaß, doch es erinnerte sie auch schmerzhaft an den Verlust ihres früheren Lebens. Und vielleicht war es dieses Verlustgefühl, das sie bald nach ihrer Rückkehr nach London dazu veranlaßte, den ersten wirklich großen Fehler in ihrer Ehe zu begehen.
Es passierte am Michaelitag. Sie kehrte gerade von einem kleinen Spaziergang zurück, als sie von drinnen laute, verärgerte Stimmen vernahm. Beim Eintreten sah sie, daß dort drei Personen versammelt waren: Sampson Bull, der mit hochrotem Gesicht an dem Eichentisch saß, Bruder Michael und ein bläßlicher, leicht herablassender Pentecost Silversleeves.
»Wenn König Richard, auf diese Weise herrscht, dann kann er zur Hölle fahren!« donnerte der Kaufmann. »Dann wird London einen anderen König bekommen!« Ida erbleichte, dies war Hochverrat.
Der Grund für Sampsons Unmut waren die Steuern. Zwar herrschte immer eine gewisse Spannung zwischen dem Monarchen und der Stadt, doch es gab klar abgesteckte Grenzen. Die Stadt hatte dem König jährlich einen bestimmten Steuersatz zu zahlen. Wenn der König schwach war, konnte die Stadt einen geringeren Betrag aushandeln und ihre eigenen Sheriffs wählen, die die Steuern eintrieben. War der König stark, ging der Satz nach oben, und der König ernannte die Sheriffs. Die jeweiligen Vereinbarungen wurden am Michaelitag verkündet.
»Weißt du, was dieser verfluchte Richard getan hat?« donnerte Bull. »Keine Sheriffs. Er schickt seine Beamten zu uns, wie diesen Menschen da!« Er deutete auf Silversleeves. »Und die sollen dann alles aus uns herausholen, was sie nur kriegen können. Schändlich!«
Seine Worte trafen durchaus zu. Silversleeves hatte gerade eine unglaublich hohe Summe von dem Kaufmann gefordert. Schließlich mußte der Kreuzzug des Königs bezahlt werden.
»Sei vorsichtig, was du über den König sagst!« meinte Ida dennoch mit einem leichten Vorwurf.
»Der König ist ein Dummkopf. Er sollte die Barone Londons nicht derart herausfordern«, antwortete Bull.
Ida wußte, daß die reichen Londoner Bürger sich gerne als Barone bezeichneten, hatte dies jedoch immer für eine Anmaßung gehalten. Doch vom Mann des Königs kam keine heftige Reaktion. Silversleeves wußte es
Weitere Kostenlose Bücher