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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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gekommen, um dem neuen König ihre Aufwartung zu machen. Da Frauen und Juden an der Krönung nicht hatten teilnehmen dürfen, dachten die Wachposten an den Toren irrtümlicherweise, dies solle ein Angriff werden, und begannen laut zu schreien. Einige heißblütige Höflinge eilten mit gezückten Schwertern herbei und schlugen zu. Mehrere Juden gingen zu Boden. Die Unruhe verbreitete sich, und noch zur selben Stunde versammelten sich die Leute in der Stadt. Im herrschenden Kreuzzugswahn fand sich schnell ein Vorwand für einen Krawall.
    »Wozu ein Kreuzzug, wenn wir diese fremden Ungläubigen mitten in unserer Stadt schmarotzen lassen?« rief der Kaufmann. »Der Kreuzzug findet hier statt, Leute! Tod den Ungläubigen!«
    In diesem Moment trat der Jude aus seinem Haus, ein älterer Mann mit blaßblauen Augen, einem schmalen Gesicht und einem langen, grauen Bart.
    Als er die aufgebrachte Menge vor seiner Tür erblickte, schüttelte er mißbilligend den Kopf und murmelte ein Gebet. Da erkannte Bruder Michael den alten Mann. Es war Abraham, der Jude, der seinem Bruder das Anwesen in Bocton verkauft hatte.
    Bruder Michael stürzte nach vorn. Als die Menschenmenge sah, daß er ein Mönch war, wich sie zur Seite, und gleich darauf stand er neben dem alten Mann und streckte einen Arm hoch.
    »Nun, Bruder«, schrie eine Stimme, »wirst du ihn töten, oder sollen wir es tun?«
    »Niemand wird ihn töten«, rief Bruder Michael. »Geht heim!«
    »Warum nicht?« ertönte es aus der Menge. »Ist es nicht rechtens, einen Ungläubigen zu töten?«
    Was sollte er dazu sagen? Natürlich verbot es ihm schon seine Menschlichkeit, einen Menschen zu töten, aber dies würde den Alten jetzt nicht retten. Schließlich war die gesamte Christenheit aufgerufen, die Ungläubigen, die Moslems, die Juden, die Abtrünnigen, zu bekämpfen. Hilflos blickte er auf den alten Mann, der leise murmelte: »Wir warten, Bruder.«
    Dann kam ihm der rettende Gedanke. Der große Mönch Bernhard von Clairvaux, der unermüdliche Klostergründer, der Mann, der zu den früheren Kreuzzügen aufgerufen hatte und von der gesamten Christenheit als Heiliger verehrt wurde – Bernhard persönlich hatte sich auch zur Judenfrage geäußert: Es steht geschrieben, daß schließlich auch die Juden zum wahren Glauben bekehrt werden. Wenn wir sie jedoch töten, dann können sie nicht mehr bekehrt werden.
    »Der gesegnete Bernhard persönlich hat gesagt, daß den Juden kein Leid zugefügt werden darf«, rief Bruder Michael endlich, »denn sie müssen noch bekehrt werden.« Triumphierend lächelte er dem alten Mann zu.
    Die Menge zögerte. Die beiden Männer spürten, daß die Stimmung noch immer schwankte. Bruder Michael richtete einen hilfesuchenden Blick gen Himmel, dann tat er etwas, was er noch nie zuvor getan hatte. »Wie dem auch sei«, rief er, »es spielt hier keine Rolle. Ich kenne diesen Mann. Er hat sich bereits bekehren lassen.« Und bevor noch jemand etwas darauf erwidern konnte, nahm er den alten Mann beim Arm, schubste ihn durch die zögernde Menge und marschierte mit ihm die Straße hinunter.
    »Du hast gelogen«, bemerkte Abraham trocken.
    »Verzeihung.«
    Der alte Mann zuckte die Schultern. »Ich bin ein Jude«, sagte er schroff, »ich werde dir nie verzeihen.« Dies war ein bitterer jüdischer Witz, auch wenn Bruder Michael ihn nicht verstand.
    Noch waren sie nicht in Sicherheit. »Ich bringe Euch in das Haus meines Bruders«, meinte Bruder Michael.
    Aber Bull, der in Begleitung von Pentecost Silversleeves neben St. Mary-le-Bow stand, meinte nur: »Tut mir leid, aber ich will nicht, daß mein Haus in Brand gesteckt wird. Er muß woanders hin.«
    Zur Überraschung des Mönchs löste Pentecost Silversleeves das Problem. »Wir bringen ihn zum Tower«, verkündete er. »Die Juden werden vom Burghauptmann beschützt. Kommt mit!« Und er schlug den Weg Richtung Tower ein. Doch als Bruder Michael sich froh über das Mitgefühl des Klerikers äußerte, sagte Silversleeves nur kühl: »Ihr versteht wohl nicht recht – ich beschütze ihn doch nur, weil die Juden zum Eigentum des Königs gehören.«
    Nicht alles, was zum jüdischen Eigentum des Königs gehörte, hatte so viel Glück. Es kam zu zahllosen Übergriffen, und der Pöbel plünderte die Häuser der reichen Fremden. Als die Nachrichten vom Aufstand in London sich verbreiteten, kam es in anderen Städten zu ähnlichen Grausamkeiten. Am schlimmsten ging es in York zu, wo die Mitglieder einer großen jüdischen

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