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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Kirche. Und jetzt hört mir gut zu: Ich habe keine Medizin, um Euch wieder sehend zu machen. Aber ich werde es schaffen, Euch Eure Sünden einsehen zu lassen. Ihr kniet Euch jetzt nieder und betet so lange, bis Ihr Euch entschlossen habt, etwas für die Tochter des Kustos zu tun.«
    »Und wenn ich es nicht tue?«
    »Dann lasse ich Euch einfach hier.«
    Grummelnd kniete er sich hin, und Mabel begab sich in eine andere Bank, um selbst still zu beten. Während sie in ihr Gebet vertieft war, hörte sie plötzlich Silversleeves' dünne Stimme: »Ich kann wieder sehen!« Er starrte auf die Innenflächen seiner Hände. »Ich kann wieder sehen!«
    Mabel bekreuzigte sich. »Der Heilige hat uns ein Wunder zuteil werden lassen. Werdet Ihr der armen Frau jetzt etwas geben?«
    »Ja«, sagte er noch immer ganz benommen. »Ja, wahrscheinlich werde ich ihr jetzt etwas geben.« Er blickte sich in der Kapelle um. »Erstaunlich! Ich kann wirklich wieder sehen. Was ist das für eine Kapelle?«
    »Die Kapelle des heiligen Thomas.«
    »Thomas?«
    »Thomas Becket natürlich. Wer sonst?«
    Einen Monat später schied Bruder Michael friedlich aus dem Leben, von Mabel liebevoll umsorgt. Zwar hatte er es nicht mehr geschafft, von seinem Bruder den Gewinn aus der vor langer Zeit abgeschlossenen Wette einzufordern, aber das war auch nicht nötig gewesen. Bull hatte St. Bartholomew's bereits eine sehr großzügige Spende zukommen lassen.
    Mabel betete noch eine Weile still an seinem Sterbebett, dann trat sie vor seine Zelle. Da sah sie im Zwielicht dieser frühen Stunde eine Gestalt am anderen Ende des Ganges.
    Der langschwänzige Dämon drehte sogar seinen Kopf und starrte sie an. Offenbar war er gekommen, um sich seine Beute zu holen, doch nun schlich er mit leeren Händen davon, was Mabel sehr zufriedenstellte.

DAS HURENHAUS
1295
    MAN HATTE IHR versprochen, daß sie morgen noch Jungfrau sein würde. Doch nun, um die Mittagszeit, begann sie daran zu zweifeln.
    Den ganzen trüben Novembermorgen schon saß das Mädchen, einen Schal fest um sich gewickelt, auf einer Bank vor dem Bordell. Auf der anderen Flußseite waren die Piers unterhalb von St. Paul's zu sehen. Zur Linken, zwischen dem Fluß und Ludgate, wo früher das kleine Baynard's Castle gestanden hatte, lag das große Anwesen, das die Dominikaner in ihren schwarzen Kutten, die Blackfriars, übernommen hatten. Es war ein hübscher Anblick, aber der fünfzehnjährigen Joan erschien er heute nur bedrohlich.
    Sie war eine ansehnliche kleine Person; ihr braunes Haar war ordentlich zurückgekämmt, so daß ihr ovales Gesicht klar zu erkennen war. Sie hatte blasse, sehr glatte Haut; ihre Hände und Füße waren klein und ein wenig fleischig, was auf leichte Rundungen ihres Körpers schließen ließ; doch gerade dies fanden die Männer oft sehr attraktiv, wie sie bemerkt hatte. Ihre stillen, ernsten Augen wiesen darauf hin, daß sie zu der fleißigen Handwerkerfamilie gehörte, deren Vorfahre Osric seine Frondienste bei der Errichtung des Towers geleistet hatte.
    Doch dies spielte nun keine Rolle mehr, nachdem sie an diesem Morgen die schwere Entscheidung gefällt und den Fluß überquert hatte. Ihr Vater und ihre Mutter würden wohl nie mehr mit ihr sprechen. Sie hatte ihr Heim, ihre Familie und ihren guten Ruf aufgegeben, um das Leben des jungen Mannes zu retten, den sie liebte.
    Am Südufer der Themse gegenüber von St. Paul's standen achtzehn Bordelle nebeneinander auf einem Gebiet, das dem Sumpf abgerungen worden war und nun Bankside hieß. Einige dieser Häuser, deren Gärten bis zur Maiden Lane reichten, waren recht groß und um hübsche Innenhöfe gruppiert. Andere waren eher hoch und schmal mit überhängenden Geschossen, die unter den langen Jahren der Ausschweifung immer tiefer zu sinken schienen. In diesen unterschiedlichen Unterkünften gingen etwa drei- bis vierhundert Prostituierte ihrem Gewerbe nach.
    Etwa in der Mitte dieser Häuserreihe stand das Dog's Head, in dem Joan nun wohnen sollte; ein mittelgroßes, rotangestrichenes Haus mit einem hohen, strohgedeckten Dach und einem großen Schild über der Tür, auf dem ein Hundekopf mit einer riesigen Zunge abgebildet war. Flußaufwärts, am Ende der Häuserreihe, stand ein großes, zum Teil aus Stein errichtetes Haus, das Castle-upon-the-Hoop. Flußabwärts, gleich hinter den Bordellen, stand ein großes, steinernes Anwesen mit einer eigenen Anlegestelle und Stufen hinab zum Fluß, der Londoner Sitz des Bischofs von Winchester.

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