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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Schiff. Begierig untersuchte er die Silbermünze, starrte auf den Götterkopf, der auf die Münze geprägt war. Als er dem davonsegelnden Schiff hinterherblickte, dachte er an den wundervollen Tag, an dem er zusammen mit seinem Vater das offene Meer gesehen hatte. Und insgeheim malte er sich aus, wie es wohl wäre, mit diesem Schiff zu reisen, wohin es auch sei.
    Segovax schien mehr als die anderen Mitglieder seiner Familie unter dem Tod des Vaters zu leiden. Der Junge war völlig überrascht gewesen, als Cartimandua sich nach drei Monaten schier unkontrollierbarer Trauer plötzlich mit einem anderen Mann zusammengetan hatte. Der Mann stammte aus einem anderen Weiler und war nett zu den Kindern, aber trotzdem wollte die Trauer nicht von Segovax weichen.
    Dann gab es ein großes Fest, das in der keltischen Welt zu Beginn des Winters gefeiert wurde – Samain, eine Zeit, in der die Geister aus den Gräbern herausstiegen und die Lebenden besuchten. Es war eine aufregende, wenn auch etwas unheimliche Zeit, zu der große Festgelage vorbereitet und wichtige Schwüre abgelegt wurden.
    Ein paar Tage nach Samain, an einem nebligen Nachmittag, hatten Segovax und seine Schwester am Rand der Kieshalbinsel in der Nähe des Weilers gespielt. Als es Branwen zu langweilig wurde, ging sie weg, und nun saß der Junge auf einem Stein und starrte in einem plötzlichen Anflug von Trübsal auf die gegenüberliegenden Hügel von Londinos. Er war in letzter Zeit oft so herumgesessen, vor allem seit dem Besuch des merkwürdigen Schiffes. Der langsame, von den Gezeiten diktierte Atem des Flusses spendete ihm Trost. Er saß schon eine ganze Weile so da, als er Schritte hörte und sah, daß der alte Druide auf ihn zukam.
    Der alte Mann war in letzter Zeit stark gealtert, auch wenn er noch immer seine stillen, unangekündigten Besuche in den Weilern machte. Als er den Jungen da so traurig sitzen sah, hielt er inne.
    Segovax stand höflich auf, doch der Alte winkte ihm zu, seinen Platz zu behalten, und setzte sich neben ihn. Sie unterhielten sich lange; der Priester fragte behutsam nach, und Segovax antwortete ihm immer vertrauensvoller, bis er ihm schließlich erleichtert alles von dem schrecklichen Tag auf dem Schlachtfeld erzählte, sogar auch, wie feige er gewesen war.
    »Schlachten sind nichts für Kinder! Ich glaube nicht, daß du ein Feigling bist, Segovax. Denkst du denn, du hättest deinen Vater im Stich gelassen?« wollte der Druide wissen.
    Der Junge nickte.
    »Aber hat dir denn dein Vater nicht gesagt, daß du dich um deine Mutter und deine Geschwister kümmern sollst?«
    »Ja.« Doch dann dachte Segovax an den neuen Mann seiner Mutter und brach, ohne es zu wollen, in Tränen aus. »Aber ich habe meinen Vater verloren. Er wird nie mehr zu mir zurückkehren.«
    Eine Weile sagte der alte Mann nichts. Daß Segovax so sehr unter dem Verlust litt, berührte ihn auf eine Weise, von der der Junge nichts ahnte. Es erinnerte ihn nur allzu gut an die Ängste und Geheimnisse, die ihn schon so lange beunruhigten. Es war schon etwas Merkwürdiges, dieses zweite Gesicht. Manchmal schenkte es ihm eine klare Vision zukünftiger Ereignisse, doch meistens war es ein besonderes Gefühl für das Leben, das immer mehr alles durchdrang, je älter er wurde. Dem alten Druiden kam das Leben immer mehr wie ein Traum vor. Außerhalb des Lebens lag nicht Dunkelheit, sondern Licht. Es war, als habe er dieses Licht sein Leben lang gekannt, selbst wenn er es nicht beschreiben konnte, und als würde er in dieses Licht zurückkehren. Manchmal zeigten ihm die Götter mit schrecklicher Klarheit tatsächlich ein Stück Zukunft, und dann wußte er, daß er ihr Geheimnis vor den anderen Menschen wahren mußte. Es kam ihm so vor, als lenkten die Götter ihn hin zu seinem Schicksal und als sei der Tod nur etwas Vorübergehendes, ein Teil eines viel größeren Ganzen.
    Doch das Sonderbare, das Beunruhigende war, daß ihm die Götter in den letzten zwei Jahren zu zeigen schienen, daß selbst dieses größere Schicksal, diese alles umfassende Schattenwelt, zu einem Ende kam. Es kam ihm fast so vor, als schickten die uralten Inselgötter sich an, die Insel zu verlassen. War dies das Ende der Welt? Oder vielleicht waren die Götter so wie Ströme, die in einem größeren Fluß aufgingen, ohne daß man es sehen konnte?
    Still legte er die Hand auf die Schulter des einfachen Jungen mit der weißen Haarsträhne und den Schwimmhäuten an den Fingern. »Bring mir das Schwert deines

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