London
gelöst.
Zwar wußte er, daß Bulls Freund Chaucer sein Patenonkel war, doch der junge Ducket dachte nur selten an den Höfling, da er nicht sehr oft zu Besuch kam. Er hörte jedoch den Kaufmann immer wieder einmal von seinen Fortschritten berichten. Von einem einfachen Pagen war der Sohn eines Weinhändlers am Hofe aufgestiegen und hatte sich sowohl nützlich als auch dank seines sonnigen Gemüts sehr beliebt gemacht. Er war mehrmals auf einen Feldzug mitgezogen, war einmal in Gefangenschaft geraten und gegen Lösegeld wieder freigekauft worden und hatte sich ausreichend mit der Rechtswissenschaft befaßt, um nun einen offiziellen Posten zu erhalten. Darüber hinaus verfügte er auch noch über die Begabung, einen hübschen Vers aus dem Französischen zu übersetzen, um einer Dame damit zu gefallen oder ein bedeutendes Ereignis zu feiern. In letzter Zeit hatte er damit experimentiert, ein paar Verse in der französisch gefärbten Version der englischen Sprache, wie sie bei Gericht gesprochen wurde, wiederzugeben, eine gewagte Neuheit, die am Hof jedoch als charmant befunden wurde. Er hatte an einer diplomatischen Mission teilgenommen, und vor einem Weilchen hatte er eine stattliche Belohnung erhalten.
Am großen Hof König Eduards III. war es Sitte, aufsteigenden jungen Höflingen aus der Mittelschicht aristokratische Ehefrauen zu finden; Chaucer wurde mit der Tochter eines flämischen Ritters beglückt. Die Schwester seiner Ehefrau, Katherine Swynford, war, wie jedermann wußte, die Geliebte des jüngsten Sohnes König Eduards, Johanns von Gent.
Der König hatte eine ganze Reihe von Söhnen, die alle recht ansehnlich waren. Johann von Gent war zwar kleiner und breiter als sein heldenhafter Bruder, der Schwarze Prinz, doch trotzdem eine beeindruckende Persönlichkeit und sicherlich klüger. Mit seiner ersten Ehe hatte er sich die großen Ländereien des Herzogtums Lancaster gesichert, mit seiner zweiten Frau, einer spanischen Prinzessin, den Anspruch auf den Thron von Kastilien. Aber seine eigentliche Liebe galt Katherine. Geoffrey Chaucer hatte also in den Randbezirk der Plantagenets eingeheiratet.
Johann von Gent lebte im großen Savoy-Palast in Aldwych. Von dort aus gingen Ducket und die kleine Tiffany eines Tages hinüber zum Charing Cross und sprachen über die Vorteile, die das Metzgerhandwerk gegenüber dem eines Bogenherstellers barg. Da kam ihnen ein Mann mit einem gegabelten Bart entgegen und fragte sie lächelnd, sobald er die weiße Haarsträhne des Jungen entdeckt hatte: »Nun, wie geht es meinem Patenkind?« Als Ducket ihm von seinen Problemen berichtete, erklärte er: »Ich glaube, ich habe da genau das richtige für dich.«
Eine Woche später schickte sich Ducket an, das Haus auf der London Bridge zu verlassen und in das seines neuen Herrn umzuziehen. Mit einem Pferd und zwei neuen Leinenhemden, die Bulls Frau ihm geschenkt hatte, machte er sich fröhlich zu seinem neuen Heim auf. Es lag zwar kaum eine Meile entfernt, aber es war immerhin ein Abschied. »Wirst du mich auch regelmäßig besuchen kommen?« fragte Tiffany, und er versprach es ihr.
»Dein Herr ist ein freundlicher Mensch«, versicherte Geoffrey Chaucer dem Jungen. »Aber sein Haushalt ist ein wenig ungewöhnlich.« Weiter ließ er sich nicht darüber aus.
1376
An einem feuchten Frühlingsmorgen starrte Dame Barnikel über ihr Ehebett hinweg feindselig auf ihre elfjährige Tochter Amy. Dame Barnikels Bett war bei weitem das aufsehenerregendste Möbelstück im Haus, ein Ungetüm aus Eichenholz mit vier Pfosten. Es hatte eine dicke Daunenmatratze, und am Fußende stand eine große Holztruhe, in der die Nachtgewänder aufbewahrt wurden.
»Du bist sehr blaß«, sagte sie zu ihrer Tochter. »Dieser junge Mann da, dieser Zimmermann, taugt überhaupt nichts. Vergiß ihn, dann wird es dir bessergehen!« Sie seufzte. Wie sehr Amy doch ihrem Vater ähnelte! Zwar war sie kräftiger als er, doch sie hatte dasselbe schmale, hohlwangige Gesicht, dieselbe Neigung zur Verschlossenheit.
Wenn die Leute Dame Barnikel und John Fleming sahen, wollten sie nie glauben, daß die beiden ein Paar waren. Mit seinem hohlwangigen Gesicht und seinem dürren Körper wirkte er einfach nicht so, als könne er ihr Paroli bieten. Niemand verstand, warum in aller Welt sie ein Jahr, nachdem ihr erster Mann gestorben war, diesen stillen Grocer geheiratet hatte.
Dame Barnikel war mit ihren dreißig Jahren ein prächtiges Weib. Sie war einen halben Kopf größer als
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