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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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sein, ein Mercer zu werden.
    Mit sieben schickte man ihn auf die Klosterschule von St. Mary-le-Bow. Zwar wurde den Kindern dort noch immer beigebracht, Latein zu lesen und zu schreiben, doch der Unterricht wurde in der englischen Sprache abgehalten. Bull wunderte sich darüber und beschwerte sich bei Whittington. »Zu meiner Zeit gab es nur Latein und eine sehr strenge Zucht. Was ist aus den Schulen geworden?«
    »In allen Schulen wird jetzt in Englisch unterrichtet. Schließlich spricht man ja sogar bei Gericht Englisch.«
    Der Kaufmann war noch nicht überzeugt. »Na ja, für ein Findelkind wird's wohl reichen«, grummelte er.
    Und dann war da noch Bulls Tochter Theophania, wie der Priester sie feierlich getauft hatte. Doch alle nannten das hübsche Kind mit seinem dichten, lockigen, dunklen Haar, dem blassen, kleinen Gesicht mit einer eher spitzen Nase, den kleinen, roten Lippen und den graublauen Augen nur bei der englischen Form dieses Namens, Tiffany. Bull betete sie an.
    Ducket zollte ihr nur wenig Aufmerksamkeit, bis sie etwa fünf war. Whittingtons Aufenthalt im Haus ging zu Ende, und in den darauffolgenden Jahren leistete Geoffrey Tiffany oft Gesellschaft. Er freute sich darüber, jemanden um sich zu haben, der zu ihm aufblickte und ihm treu auf den Fersen folgte. Oft unterbrach er sogar seine Jungenspiele, um mit ihr Verstecken zu spielen oder sie auf dem Rücken quer über die Brücke zu tragen, was sie am tollsten fand; manchmal gingen sie auch zum Fischen und fingen eine Forelle oder einen Lachs aus der nach wie vor fischreichen Themse.
    Die Londoner Brücke war eines der gewagtesten, gefährlichsten Dinge, an denen ein junger Mann sich messen konnte. Eines Tages – Ducket war etwa elf – bemerkte Whittington ganz beiläufig: »Wenn du morgen früh auf den Fluß blickst, siehst du vielleicht etwas Interessantes!«
    So standen also am nächsten Morgen Ducket und Tiffany Hand in Hand an dem großen Fenster im Wohnzimmer. Die Themse funkelte im Sonnenlicht, und zehn Meter unter ihnen umrauschte das Wasser den großen Steinpfeiler und wirbelte mit einem schrecklichen Brüllen durch den Kanal. Da erblickten sie Whittington mit zwei Freunden auf einem langen Boot. Er stand am Heck und lenkte das Boot mit einem einzigen Ruder. Wie tapfer er aussah! Beim Näherkommen blickte er hoch, lächelte und winkte ihnen fröhlich zu. Dann steuerte er gelassen in die Mitte des Strudels und wurde von der Strömung erfaßt.
    In diesem Moment merkte Ducket, daß Bull hinter ihnen stand. »Verdammter junger Narr!« sagte er streng, aber Ducket meinte, auch ein wenig Anerkennung in seiner Stimme entdeckt zu haben. »Sehen wir lieber nach, ob er noch lebt«, meinte Bull, als das Boot unter ihnen verschwand, und er brachte die beiden Kinder über die Straße auf die andere Brückenseite. Whittington war schon fast auf der Höhe von Billingsgate. Er schwenkte sein blaues Halstuch triumphierend über seinem Kopf. Tiffany sah mit weitaufgerissenen Augen zu. »Würdest du das auch machen?« fragte sie Ducket.
    Er lachte. »Ich glaube nicht.«
    »Würdest du es für mich machen?« hakte sie nach.
    »Für dich schon«, meinte er und gab ihr einen Kuß.
    Als Ducket zwölf war, rief ihn Bull zu sich ins Wohnzimmer. »Es wird bald Zeit, daß du eine Lehre antrittst«, sagte er lächelnd. »Vielleicht denkst du einmal darüber nach, was du werden willst.«
    Der große Moment, auf den der Junge schon seit Jahren gewartet hatte. »Ich weiß es schon«, brach es aus ihm heraus. »Ich will ein Mercer werden.« Wie Whittington. Wie Bull. Glücklich blickte er auf den Kaufmann, doch das Lächeln auf dessen Gesicht war verschwunden.
    »Das ist unmöglich«, sagte Bull. »Die Gilde der Mercer ist für Kaufleute, für Leute mit Geld.« Zwar gab es auch in der führenden Mercergilde arme Lehrlinge, aber Bull hatte nicht die Absicht, sein Findelkind in diese Gilde zu bringen. »Da du kein Geld hast, mußt du ein Handwerk lernen«, sagte er freimütig.
    Ducket ließ sich davon nicht lange verdrießen. Ein paar Tage später spazierte er durch die Stadt und sah sich die verschiedenen Werkstätten an. Da gab es Handschuhhersteller, Sattelmacher, Zaumzeughersteller, Faßbauer, Drechsler, Bogenhersteller, Pfeilhersteller, Kürschner, Gerber sowie die ganzen Lebensmittelhändler – Bäcker und Metzger, Fischverkäufer und Obsthändler. Er konnte sich alle diese Berufe für sich vorstellen. Schließlich wurde sein Problem von völlig anderer Seite

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