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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Bull. »Offenbar fanden ihn die Nachbarn in einer Behausung, in der alle Mitglieder einer armen Familie namens Ducket an der Pest gestorben waren. Ein Wunder, daß er überlebt hat. Sie haben ihn an der Brücke ausgesetzt, damit ihn jemand mitnimmt, genauso, wie wir es uns gedacht haben.« Der Rufname des Kindes blieb ein Rätsel. Da kein Kind ungetauft in den Himmel kommen konnte, wurden Babys gleich nach der Geburt getauft. »Ich habe in sämtlichen Kirchen in der Umgebung nachgefragt«, berichtete Chaucer, »aber nichts herausgefunden. Nenn ihn doch Geoffrey«, schlug er lächelnd vor. »Ich werde sein Taufpate sein.«
    Im Alter von drei Jahren wurde der Junge offiziell in die Kirche aufgenommen, wie es damals üblich war. Danach sah er von seinem Taufpaten einige Jahre lang wenig, da Chaucer viel unterwegs war. Aber er verbrachte eine glückliche Kindheit, obwohl er nur ein Findelkind war. Bull war stets gerecht zu ihm, und seine Frau verhielt sich wie eine etwas distanzierte Mutter. Nur eines machte ihm Sorgen. In seinem Haar war eine weiße Strähne, die die Leute immer anstarrten. Schlimmer noch waren die merkwürdigen Häute zwischen seinen Fingern.
    Gilbert Bulls Haus stand fast in der Mitte der Brücke auf der stromaufwärts gelegenen Seite. Es hatte vier Stockwerke und ein hohes, steiles Ziegeldach. Es war aus Holz und Mörtel gebaut und hatte wie viele andere der besseren Häuser dunkle, mit reichen Schnitzereien versehene Eichenbalken. Ein Dutzend kleiner Wasserspeier mit Menschen- oder Tiergesichtern spähte von den überstehenden Ecken aus auf den betriebsamen Weg hinunter. Im Erdgeschoß befand sich Bulls Kontor. Im ersten Stock, dem Hauptgeschoß, gab es ein großes Wohnzimmer mit einem riesigen, offenen Kamin. Der obere Teil des großen Fensters, von dem aus man einen guten Blick auf den Fluß hatte, bestand aus winzigen, grünen Glasscheiben. Im Kamin brannte Kohle, die als Seekohle bekannt war, weil sie mit Frachtschiffen vom Norden nach London transportiert wurde; sie verströmte mehr Wärme und rauchte weniger als Holz. Über diesem Stockwerk lagen die Schlafräume, und darüber gab es ein Dachgeschoß. Die Köchin schlief in der Küche im Erdgeschoß. Geoffrey Ducket, die Diener und die Lehrlinge schliefen im Dachboden.
    Am liebsten hielt sich Geoffrey in der Küche mit ihren Schätzen auf: dem großen Spieß neben dem stets brennenden Feuer, dem ruß geschwärzten Eisenkessel, dem riesigen, hölzernen Wasserfaß, das jeden Morgen mit Themsewasser gefüllt wurde, das man mit Eimern aus dem Fluß schöpfte; dem ledernen Behälter mit lebenden Fischen, aus denen die Köchin ihre Wahl treffen konnte; dem schweren Krug mit Honig, den sie zum Süßen verwendete; das Faß, in dem Gemüse vergoren wurde; das Fach mit den Gewürzdosen, an denen er oft schnupperte, weil sie so köstlich rochen.
    Einmal im Monat sah er den Frauen beim Waschen zu. Ein großer Holztrog wurde in die Mitte der Küche gestellt und mit heißem Wasser gefüllt, in das man Ätznatron und Holzasche gab; sodann wurden die Leinenhemden und Tücher eingeweicht, geklopft, gespült und wieder und wieder durch eine Mangel gezogen, bis sie steif wie Bretter waren. Die Köchin zeigte ihm auch, wie man Pelze reinigte. »Ich nehme immer diese Flüssigkeit hier«, erklärte sie ihm. »Wein und Bleicherde.« Wenn sie ihn daran riechen ließ, zog er seine Nase immer ganz schnell zurück, denn das Ammonium roch beißend scharf. »Dann gebe ich noch etwas Saft von grünen Trauben dazu. Das beseitigt alle Flecken, wie du siehst.«
    Oft kauerte er an der Küchenschwelle und sah den Hausierern zu, die ihre Waren feilboten. Viel Spaß machte es ihm auch, von dem kleinen Hof aus, von dem der Eimer in den Fluß gelassen wurde, Stöcke in die Themse zu werfen und dann über den geschäftigen Weg in einen Hof auf der anderen Seite hinüberzusausen, wo er versuchte, die Stöcke zu sehen, wenn sie unter dem Brückenbogen herausgeschossen kamen.
    Am schönsten fand er es, wenn sein Held da war. Meist hielten sich Lehrlinge im Haus auf, doch sie waren viel zu beschäftigt, um den Findelknaben in der Küche zu beachten. Nur einer war anders. Er war zehn Jahre älter als Geoffrey und hatte lockiges, braunes Haar und braune Augen sowie ein unbekümmertes und ausgesprochen freundliches Gemüt. Der Junge vergötterte ihn. Er war der jüngste Sohn einer reichen, adligen Familie aus dem Westen. Sein Vater hatte ihn nach London geschickt, damit er sich dort in die

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