London
Fleming; ihr dunkelrotes Haar trug sie straff zurückgekämmt wie eine Amazone, und selbst Bull, der ein strenger Kritiker war, mußte zugeben, daß sie eine schöne Frau war. Still war sie nicht. Mit lauter Stimme konnte sie eine Indiskretion über die Straße hinausposaunen, mit heiserem Grölen ein Geheimnis preisgeben; einmal im Monat betrank sie sich und brüllte dann wie ein Wikinger auf dem Schlachtfeld. Sie liebte es, sich in den buntesten Farben zu kleiden.
Dies brachte ihr manchmal Ärger ein. Seit der Herrschaft Eduards I. war eine Reihe von Gesetzen zur Kleiderfrage erlassen worden. So hielt man es zum Beispiel für einen Kaufmann unschicklich, die rote Robe eines Alderman zu tragen, und eine Kaufmannsfrau trug nicht den reichverzierten Kopfschmuck und die fließenden Seidengewänder einer Hofdame. Vor allem die modebewußteren Nonnen verstießen gegen diese Gesetze, denn im Winter neigten sie dazu, ihr Armutsgelübde zu vergessen und ihre Trachten mit teuren Pelzen zu schmücken. Dame Barnikel hielt sich nicht an die Regeln. Wenn ein Kopfschmuck, ein bunter Seidenstoff oder ein teurer Pelz ihr gefielen, dann trug sie sie eben.
Im letzten Jahr hatte ihre Tochter angefangen, sich für Ben Carpenter zu interessieren. Amy war noch sehr jung, Carpenter noch ein Lehrling, doch viele Mädchen heirateten mit dreizehn, und Kinder konnten sie auch noch früher bekommen. Dame Barnikel wollte kein Risiko eingehen.
»Er ist nicht gut genug für dich«, stellte sie fest.
»Aber er ist mein Vetter«, wandte das Mädchen ein. »Und Vater mag ihn.« Einer der Enkel des Sattelmalers, dessen Tochter vor achtzig Jahren den jungen Fleming gerettet hatte, war ein Zimmerer geworden und hatte den Namen seines neuen Berufsstandes angenommen. So trug der eine Zweig der Handwerkerfamilie von da an den Namen Painter, der andere Carpenter, und beide waren sie entfernt mit Amy verwandt. Dame Barnikel reagierte auf diese Information nur mit einem abfälligen Schnauben. Ihr Mann mochte den ernsten jungen Handwerker tatsächlich, und deshalb konnte Dame Barnikel den Burschen auch nicht einfach verjagen.
Sie selbst war eine geborene Barnikel von Billingsgate. Mit dreizehn hatte sie einen Schankwirt geheiratet, und als Witwe mit sechzehn Fleming. Doch aufgrund ihres starken Charakters kannte jeder sie nach wie vor unter dem Namen Barnikel. Von ihrem ersten Gatten hatte sie die George Taverne in Southwark geerbt, die sie nun seit fünfzehn Jahren selbst bewirtschaftete. Sie war ein Mitglied der Brauergilde. Dies war in London nicht ungewöhnlich. Witwen führten den Familienbetrieb oft weiter. Mehrere Gilden hatten weibliche Mitglieder, und im Textilhandwerk gab es viele weibliche Lehrlinge. Üblicherweise wurde zwar von einer Witwe erwartet, daß sie ihr Handwerk aufgab, wenn sie einen Mann aus einem anderen Handwerk heiratete. Doch Dame Barnikel hatte verkündet, daß sie weitermachen würde, und keiner der Brauer hatte gewagt, dagegen Einspruch zu erheben.
Amy interessierte sich nicht für das Geschäft, und wenn ihre Mutter ihr vorschlug, doch einmal ein Handwerk auszuprobieren, schüttelte sie stets den Kopf und meinte: »Ich will nur heiraten.« Jedesmal, wenn Dame Barnikel den kleinen Handwerker Carpenter mit seinen krummen Beinen, seinem für den kleinen Körper viel zu großen Kopf, seinem großen, runden Gesicht und den ernsten Augen sah, murmelte sie nur: »Mein Gott, was ist der Kerl langweilig!« Doch genau deshalb mochte Amy ihn wohl.
»Du würdest besser fahren mit dem jungen Ducket«, sagte sie nun. Der Lehrling ihres Mannes war ihr ans Herz gewachsen. Das Mädchen schien ihn auch zu mögen, aber bis jetzt hatte es die Augen noch nicht von dem düsteren Handwerker abgewendet. »Wie dem auch sei«, beschloß die Mutter das Gespräch, »das Schlimmste an der Sache ist doch, daß der arme Kerl nicht ganz richtig im Kopf ist. Du würdest doch nur verlacht werden!«
Da brach die arme Amy in Tränen aus und rannte aus dem Zimmer.
James Bull machte seinen Vorfahren alle Ehre. Der große, starke, hellhaarige Mann mit seinem breiten Gesicht wäre von seinen sächsischen Ahnen sofort als einer der ihren erkannt worden. All sein Tun war von seiner Aufrichtigkeit geprägt. Er brach nie sein Wort, er war offen, ehrlich und geradlinig. Seine Eltern verließen sich auf ihn, seine Geschwister blickten zu ihm auf; und obgleich das Geschäft seit drei Generationen nur das Nötigste abwarf, um die Familie zu ernähren, hatten doch
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