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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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darauf schließen, daß es schon das Brot, den Käse und einige Feigen verzehrt hatte.
    Obwohl das Mädchen erst achtzehn war, hatte es einen Leibesumfang, der auch bei einer älteren Frau noch beeindruckend gewesen wäre. Seine ersten zwei Kinne waren ziemlich ausgeprägt, ein drittes bahnte sich unter ihnen einen Platz. Es saß breitbeinig auf den Stühlen; sein Kleid fiel locker über seine Brüste.
    War dieses dicke Mädchen tatsächlich Julius' Schwester? Ja, sie war es. Mit etwa neun Jahren hatte sie angefangen, immer dicker zu werden und sich aus der Welt des Sportes und der Spiele zurückzuziehen, die Julius und seinen Freunden großen Spaß machte. »Ich verstehe nicht, wie sie so werden konnte«, sagte der Vater immer wieder verwundert. Zwar war er selbst inzwischen eher rundlich, doch er war nie dick gewesen, ebensowenig wie Julius oder die Mutter. Seine Schwester und Julius hatten sich im Lauf der Jahre immer weniger zu sagen. Sie sprach selten mit irgendwem, auch wenn sie so entgegenkommend war, Dinge zu tun wie etwa Wache zu schieben, ohne Fragen zu stellen, solange man ihr nur etwas zu essen gab.
    Nun saß sie also da, blickte auf die leere Straße und holte sich ab und zu eine Feige aus der Tüte.
    Alles war ruhig. Eine halbe Meile entfernt ertönte ab und zu ein schläfriges Grunzen. Es stammte von den Löwen, die aus fernen Ländern hierhergebracht worden waren. Morgen würden die Spiele stattfinden – eine aufregende Sache. Es würde Gladiatoren und Kämpfe mit den Bären aus den Bergen von Wales und mit den Wildschweinen aus der Umgebung geben. Nahezu alle Bewohner Londiniums würden sich in die große Arena drängen, um dieses phantastische Spektakel mitzuerleben.
    An der Straßenecke war es sehr warm. Das dicke Mädchen ordnete lässig sein Kleid neu, um seine Brüste zu bedecken. Ihm war langweilig, denn es hatte nichts mehr zu essen. Gar niemand kam vorbei. Die meisten Leute machten um diese Zeit einen Mittagsschlaf. Es schloß ebenfalls die Augen.
    Fünf Soldaten eilten durch die Straßen, begleitet von einem Zenturio, einem großen, korpulenten Mann mit krausem Haar. Eine Verletzung, die er sich vor Jahren bei einer Messerstecherei zugezogen hatte, hatte eine Narbe auf seiner rechten Wange hinterlassen, die ihm die Aura eines Veteranen verlieh und bei seinen Leuten einen gewissen Respekt einbrachte.
    Es war Julius' Schuld. Wenn ihn jemand bei einem Boxkampf zu Boden schlug, stand er gleich wieder auf, um unverdrossen weiterzukämpfen. Es kam ihm nie in den Sinn, nachtragend zu sein. Da Boshaftigkeit nicht in seinem Wesen lag, versäumte er es einfach, diesen Zug bei anderen zu erkennen. Und deshalb hatte er auch nicht den Ausdruck in den Augen des Burschen bemerkt, den er vor zehn Tagen besiegt hatte. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, daß sein Gegner den Beutel öffnen könnte, den er an jenem Tag sorglos beiseite gelegt hatte, und darin eine bestimmte Silbermünze bemerken würde.
    »Julius, der Sohn von Rufus, der im Hafen arbeitet, hat einen silbernen Denarius. Wie ist er dazu gekommen? Der Zimmerer Sextus ist sein Freund.« Dieses anonyme Schreiben hatten die Behörden erhalten. Nun hatten sie sich auf den Weg gemacht, um der Sache nachzugehen.
    Julius grinste still vor sich hin. Sein Lohn am Hafen war bescheiden. Wenn es denn etwas gab, was er dringend brauchte, dann war es Geld. Und in diesem Moment machten Sextus und er auf die einfachste Weise Geld, die man sich vorstellen konnte: Sie fälschten es.
    Es war keine große Kunst, Münzen zu fälschen; man mußte nur ziemlich sorgfältig arbeiten. Offizielle Münzen waren geprägt. Eine blanke Metallscheibe wurde zwischen zwei Stempel gelegt – der eine für die Oberseite, der andere für die untere. Das auf den Stempeln befindliche Bild wurde auf die Metallscheibe geprägt. Julius hatte von Fälschern gehört, die tatsächlich diese Prozedur auf sich nahmen und damit Fälschungen von höchster Qualität erzielten, doch dafür mußte man die Stempel selbst herstellen, was über seine und Sextus' Fähigkeiten weit hinausging. Die meisten Fälscher nahmen einfach eine Münze zur Hand, preßten jede Seite dieser Münze in feuchten Ton und stellten damit zwei Gußformen her, die sie dann übereinanderlegten, wobei sie in der Seite ein kleines Loch ließen. Wenn dann der Ton getrocknet und hart war, konnte man flüssiges Metall durch das Loch in die Form gießen. Nach dem Abkühlen wurde die Gußform aufgebrochen, und schon hatte man

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