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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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nächsten Tages waren sie an der Küste Devons vorbei, als sie einen Schrei hörten. »Sie holen ein.« Die Speedwell hatte ein Leck.
    Endlich wurde die Speedwell wieder für seetüchtig erklärt, und die beiden Schiffe setzten die Segel. Fünf Tage lang pflügten sie sich in maßvollem Tempo westwärts. Am sechsten Tag fiel die Speedwell zurück; eine Stunde später drehten die beiden Schiffe um.
    »Die Speedwell kann nicht weiterfahren; sie ist morsch«, teilte Kapitän Jones den versammelten Passagieren mit, als sie in den Hafen von Plymouth zurückgekehrt waren. »Die Mayflower kann nur etwa hundert von euch aufnehmen, zwanzig müssen also zurückbleiben.«
    »Wir bleiben«, erklärte Dogget. Seine Kinder nickten, sogar der älteste Sohn, und Martha konnte sie nicht tadeln. Auch andere gaben nun zu, daß sie lieber nicht weiterfahren wollten. Und so setzten die Pilgrim Fathers im September vom Hafen von Plymouth aus endlich die Segel, jedoch ohne die Familie Dogget, die nach London zurückkehrte.
    Eines strahlenden Vormittags Anfang Oktober kehrte Sir Jakob Ducket gerade in sein Haus zurück, als Julius ihm mitteilte: »Erinnerst du dich an diese Leute, Vater, mit den seltsamen Händen? Ich habe sie gerade wiedergesehen, zusammen mit Carpenter. Ich glaube, sie wohnen bei ihm.«
    Das war ein schwerer Schlag für Sir Jakob, denn er war es, der ihnen anonym und über einen Mittelsmann eine ansehnliche Geldsumme bezahlt hatte, damit sie abreisten. An diesem Abend, nachdem er allein ein paar Stunden vor einem Krug Wein gesessen hatte, erlitt Sir Jakob einen Schlaganfall. Zwei Tage später wurde klar, daß seine beiden Söhne Henry und Julius seine Geschäfte übernehmen mußten.
    Jeden Abend, kurz vor Sonnenuntergang, stand sie auf dem niedrigen Hügel, der Wheelers Hill genannt wurde, und blickte nach Osten. Was betrachtete sie? Die ausgedehnten Felder unter ihr? Den gewundenen Fluß? Suchte sie das Meer? Niemand fragte. Die Witwe Wheeler behielt ihre Gedanken für sich.
    Das Land der Wheelers war damals typisch für Virginia – ein paar hundert Morgen, der Größe nach ein Gutshof. Wheeler selbst hatte nie viel daraus gemacht, aber seine Witwe. Sie leitete alles selbst und arbeitete hart. Sie hatte zwei Sklaven; aber die Sklavenarbeit in Virginia begann damals erst. Die meisten Arbeiter waren zwangsverpflichtete Engländer – manche waren arm oder hatten Schulden, ein paar kleine Gauner mußten zehn Jahre lang arbeiten, um ihre Freiheit zu erlangen. Die Witwe hatte den Ruf, gerecht, aber hart zu sein. Wie viele andere Farmen in Virginia war jeder Meter Boden mit einer einzigen Pflanzensorte bebaut, durch deren riesige grüne Blätter der Wind blies: Tabak. Seit John Rolfe, Pocahontas' Ehemann, sie eingeführt hatte, hatte der Tabakertrag in Virginia einen erstaunlichen Aufschwung genommen. Vor ein paar Jahren hatte man zwanzigtausend Pfund verschifft; dieses Jahr vielleicht eine halbe Million.
    Die Kolonie Virginia wuchs rasch. Es gab nun mehrere tausend Siedler, die jedes Jahr mehr Land beanspruchten. Manche der großen Farmen verdienten so gut, daß sie angefangen hatten, ein paar Luxusgüter aus England einzuführen. Die Witwe Wheeler kaufte fast nichts. Vielleicht war sie puritanisch, vielleicht einfach nur geizig. Es war schwer zu sagen, da kaum einer ihrer Nachbarn etwas über sie wußte. Sie wären sicherlich erstaunt gewesen zu erfahren, daß sie fünfzehn Jahre lang mit dem schwarzen Piraten Barnikel zusammengelebt hatte.
    Auf der ersten Reise war sie seine Frau geworden; sie hatte keine Wahl gehabt. Sie war seine Frau gewesen, als er sie, die bereits schwanger war, in einem afrikanischen Hafen ließ, damit sie dort ihr Kind gebar. Nach ein paar Monaten war er zurückgekehrt, entzückt, einen Sohn vorzufinden, und hatte sie mit Geschenken überschüttet. Fünf weitere Reisen, ein Dutzend Hafen, drei weitere Kinder. Viele Jahre hatte sie an fremdartigen, exotischen Orten verbracht, von der Karibik bis zur Levante. Zuerst war es seltsam gewesen, in seiner Macht zu sein, zu wissen, daß er sie wahrscheinlich töten konnte. Doch er war erstaunlich zärtlich. Ob sie es wollte oder nicht, er verstand es, sie körperlich in Ekstase zu versetzen. Und er war zu gerissen, um ihr je eine Chance zum Entkommen zu geben. Nie fuhr er in die Nähe Londons. Was sollte sie tun – ihre Kinder im Stich lassen? Das konnte sie nicht. Sie mit nach London nehmen? Wie würde es ihnen dort mit ihrer dunklen Hautfarbe ergehen?

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