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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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warum war die Pest an diesen Orten so konzentriert? Viele Menschen rauchten Pfeife, weil man glaubte, der Rauch reinige die Luft. Doch wenn die Krankheit durch die Luft verbreitet wurde, warum fand er dann in einem Kirchspiel der Stadt die Pest, aber nicht in dem Kirchspiel eine Straße weiter? Er konnte auch nichts Gemeinsames zwischen den meistbetroffenen Gebieten entdecken – das eine war sumpfig, das andere trocken und luftig. Es kann nicht die Luft sein, folgerte Meredith. Die Pest wird anders übertragen. Aber wie? Durch Hunde und Katzen? Er hatte von einem Nachbarn gehört, daß es Sir Julius gewesen war, der Ned erschossen hatte. Eine Woche lang war er wütend gewesen, doch nun nicht mehr. Weiß Gott, wie viele Hunde und Katzen mittlerweile auf Befehl des Mayors getötet worden waren. Zwanzig- oder dreißigtausend, schätzte er. Aber selbst wenn es Hunde und Katzen waren, wie übertrugen sie die Krankheit?
    Eine mögliche Lösung fiel ihm Anfang September ein, als er einen sterbenden Mann versorgte. Die Pest trat hauptsächlich in zwei Formen auf. Bei der Beulenpest überlebte etwa einer von drei Befallenen; die Lungenpest überstand kaum jemand. Die Lunge des Patienten füllte sich, er nieste häufig, hustete Blut, hatte plötzlich schreckliche Anfälle von Fieber oder Schüttelfrost und fiel dann in einen tiefen Schlaf, bis er tot war. Der arme Kerl vor Meredith war Wasserträger gewesen und hatte sechs Kinder. Eines der kleinen Kinder kam, um ihn zu trösten, als der Mann gerade niesen mußte – dem Kind direkt ins Gesicht. Das Kind zuckte zusammen. Instinktiv eilte Meredith zu dem Kind, packte einen Lappen und wischte ihm das Gesicht ab. »Haltet die Kinder von ihm fern«, rief er der Mutter zu. »Verbrennt dieses Tuch.« Denn so mußte es sein, dachte er. Der Schleim und der Speichel einer infizierten Person mußte die Ansteckung übertragen, da sie aus dem meistbetroffenen Körperteil kamen. Eine Woche später starb das Kind.
    Martha zögerte immer noch, obwohl ihr Stiefsohn Dogget beharrlich war. »Ich bin sicher, wo ich bin«, erklärte sie. Obwohl sie zusammen aus Massachusetts zurückgekommen waren, hatte sie sich dem jüngeren Sohn Doggets lange Zeit nicht nahe gefühlt. Es mangelte ihm an spiritueller Unterweisung. Anstatt ein Handwerk zu erlernen, hatte er geheiratet und war Fährmann geworden. Aber er besuchte sie jede Woche, und sie rief sich ins Gedächtnis, daß in fast jedem etwas Gutes steckte.
    »Du denkst, daß du sicher bist, altes Mädchen, weil Gott auf deiner Seite ist.« Liebevoll legte Dogget den Arm um sie. »Du glaubst, es sind nur wir Sünder, die sterben.« Und obwohl Martha seinen Tonfall mißbilligte, war es genau das, was sie dachte. Denn Martha wußte, was die Ursache der Pest war: Gottlosigkeit.
    Allgemein formuliert hätten die meisten Menschen das bestätigt. Heimsuchungen und Katastrophen lagen in der Hand Gottes und waren der sündigen Menschheit gesandt worden, seit Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben worden waren. Und Martha wies noch auf etwas hin: »Wo hat die Pest begonnen? In der Drury Lane. Und warum?« Darauf wußte jeder Puritaner die Antwort. Dort stand das neue Theater, gefördert vom König mit seinen Mätressen und seinem lüsternen, extravaganten Hof. War London nicht vor einem halben Jahrhundert gewarnt worden, als Shakespeares Globe niederbrannte? Im moralischen Verfall der Stadt konnte Martha deutlich die Wahrheit sehen. Daher glaubte sie nicht, daß die Pest sie heimsuchen würde.
    Doch von Vintry herauf hatte sich die Pest seit letzter Woche stetig über den Garlic Hill zur Watling Street vorgearbeitet. Es war nicht erstaunlich, daß ihre Familie sich Sorgen um Martha machte. Wenn nur Gideon noch hier wäre, aber er war vor drei Jahren gestorben. O Be Joyful hatte seinen Platz eingenommen, doch obwohl der Holzschnitzer nun fast dreißig Jahre zählte und die Freude ihres Alters war, besaß er nicht die Autorität seines Vaters. Er war immer noch Geselle, nicht Meister. Dennoch war es nun O Be Joyful, der die Frage entschied.
    »Wir gehen jetzt«, erklärte er und deutete auf seine Frau und zwei kleine Kinder. »Bitte komm mit uns, Tante Martha, und sei unsere spirituelle Führerin.« Widerwillig stimmte sie zu, und eine halbe Stunde später gingen sie und die beiden Familien ernst den Hügel hinunter, wo Dogget sie alle auf seine Fähre steigen ließ und zu rudern begann. Als sie hinaus auf den Fluß fuhren, starrte Martha nach vorn und fragte

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