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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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entsetzt: »Dort wollen wir hin?«
    Ihr Ziel lag mitten im Fluß, und obwohl es groß war, konnte man kaum erkennen, was es war. »Gildehaus der Fährmänner nenne ich es«, erklärte Dogget, denn den Fährmännern war das eingefallen. Aus einer Reihe von Flößen, Fähren und anderen kleinen Booten, die man zusammengebunden hatte, war eine große schwimmende Insel entstanden. Die Männer waren noch an der Arbeit und bauten kleine Schutzhütten darauf. Die Überlegung war logisch genug. Wenn sie draußen auf dem Fluß blieben, isoliert von der Ansteckung, konnten sie hoffen zu überleben.
    Mitte September wurde es immer schwieriger, mit der Pest fertig zu werden. Die Leute beachteten die Quarantäne nicht mehr. Pestopfer wurden verheimlicht, die Leute weigerten sich, in infizierten Häusern eingesperrt zu bleiben, oder versuchten ihre Kinder hinauszuschmuggeln, wo sie sicher waren. Die begrenzte Zahl der Wachen machte es unmöglich, sie zu kontrollieren. In einem Versuch, die Kranken von den Gesunden zu trennen, hatte der Mayor angeordnet, daß zahlreiche arme Opfer in den Spitälern der Stadt untergebracht werden sollten. Aber es gab nur so wenige: das alte St. Bartholomew's, ein dem heiligen Thomas geweihtes Spital in Southwark und St. Mary's bei Moorfields. Sie waren zum Bersten voll. Die Stadt hatte zusätzliche Häuser, die sogenannten Pesthäuser, eingerichtet, aber auch sie waren überfüllt. Und für die Toten hatten die Friedhöfe nicht genügend Raum. Große Pestgruben wurden ausgehoben, zumeist außerhalb der Stadtmauern, in die man die Toten zu Dutzenden warf. Aber immer noch stapelten Totengräber die Leichen auf den Friedhöfen, bis die obersten schließlich mit einer dünnen Schicht Erde bedeckt wurden. Auf dem Friedhof hatte Meredith gesehen, wie Arme und Beine aus dem Boden hervorsahen.
    Häufig ging er in die Pesthäuser in Westminster, und eines Tages wurde er von einem Wächter angesprochen, er solle zu einem Haus in der Nähe kommen, wo ein Arzt benötigt wurde. Ein paar Minuten später betrat er ein kleines, aber hübsches Haus in Klein-Frankreich.
    Sechs Tage waren vergangen, seit Jane Wheeler sich fiebrig fühlte. Zuerst hatte sie versucht, es zu ignorieren. Immerhin, rief sie sich ins Gedächtnis, bin ich über achtzig. Bis zum Abend fühlte sie sich schwach; am nächsten Tag war ihr schwindlig. Mittags beschloß sie auszugehen, aber sie war nur ein paar Meter weit gekommen, als sie zu taumeln begann. Eine Nachbarin half ihr. Von den nächsten Stunden wußte sie nur noch wenig. Dann kam eine fremde Frau, eine Art Krankenschwester. Aber da konnte sie nur noch an eines denken. Sie waren an ihrem Hals, in den Achselhöhlen und zwischen den Beinen – große Klumpen, sie konnte sie fühlen. Und der Schmerz, den schrecklichen Schmerz.
    Meredith seufzte. Die Lungenpest ließ einen rasch sterben, doch die andere Form, die Beulenpest, war noch grausamer anzusehen. Die alte Frau vor ihm befand sich im letzten Stadium. Bei der Beulenpest entzündeten sich die Lymphdrüsen und schwollen zu Klumpen an – den Beulen, wie man sagte. Unter der Haut traten Blutungen auf, die dunkle Punkte und rote Flecken verursachten. Die Patienten befanden sich oft im Delirium. Am Ende erschienen häufig rote Punkte auf dem Körper. Aber während dieser letzten Krise war die alte Frau bei klarem Verstand, und sie hatte ein Anliegen.
    »Ich möchte, daß Ihr mir mein Testament schreibt; ich bin zu schwach.« Sie fröstelte. »Im Eck dort sind Tinte und Feder.« Er holte beides, setzte sich, nahm einen seiner Handschuhe ab und schickte sich zu schreiben an, als sie begann: »Ich, Jane Wheeler, bei klarem Verstand…«
    Sie war also diese Frau. Sie hatte keine Ahnung, wer er war; obwohl er sie nicht mehr gesehen hatte, seit er ein Junge war, erinnerte er sich an den Skandal um sie. Das Testament war kurz und prägnant. Sie hinterließ ihr kleines Vermögen zu gleichen Teilen den überlebenden Kindern des seligen John Dogget, ausgenommen das Kind von Martha. »Doch da ist noch eine Sache.«
    Richard Meredith wußte nicht, daß unter der Bodendiele des Raumes gerade eine schwarze Ratte verendet war. Noch konnte er den Floh sehen, der gerade durch den Spalt zwischen den Dielenbrettern gekommen war. Mehrere Tage lang hatte er sich mit dem Blut der schwarzen Ratte vollgesaugt, die die Pest hatte. Im Blut der Ratte waren Hunderttausende von Pestbazillen, ein paar zehntausend waren nun auf den Floh übertragen. Im Magen des Flohs

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