London
William Harvey hatte gezeigt, daß Blut im Körper zirkulierte; außerdem begann er zu untersuchen, wie sich der menschliche Fötus entwickelt. Durch sorgfältige Experimente hatte Robert Boyle Gesetze für das Verhalten von Gasen formuliert. Von allen Orten, wo Meredith hätte leben können, konnte keiner besser als London sein, denn hier war der Sitz der Royal Society, der Königlichen Akademie der Naturwissenschaften.
Die Royal Society in London hatte ihren Ursprung in einem inoffiziellen Diskussionsclub, der sich vor zwanzig Jahren gebildet hatte. Meredith wurde dort zum ersten Mal im Jahr der Restauration eingeführt, als man ihm erlaubte, die Vorlesung eines führenden jungen Astronomen namens Christopher Wren – Sohn eines Geistlichen wie er – zu besuchen. Die Zahl der Mitglieder in diesem Club war begrenzt, doch als Arzt durfte er sich alle Vorlesungen anhören, die an jedem Mittwochnachmittag stattfanden. Auch König Karl wurde Mitglied, daher wurde der Club als Royal Society bekannt.
Vor ein paar Monaten hatte Richard Meredith sogar selbst einen kurzen Vortrag gehalten, der ihm anerkennende Worte von Wren und anderen einbrachte. Dennoch hatte er nie die wundervolle Neuigkeit erwartet, die man ihm am Tag zuvor mitteilte: »Dr. Meredith, man hat Euch zum Vollmitglied der Society gewählt.« Das Maß seiner Freuden war voll. Zumindest bis vor einer Stunde.
Als im Mai ein paar Fälle auftraten, hatte Meredith ihnen wenig Beachtung geschenkt. Ein solches sporadisches Auftreten hatte es in London während der Sommerzeit seit Jahrhunderten gegeben. Er war auch nicht beunruhigt, als es im Juni mehr Fälle wurden. In den Kirchspielen entlang Cheapside gab es keine, auch die Watling Street war verschont. Seit fast zwanzig Jahren hatte es keinen merklichen Ausbruch gegeben, und seit König Jakob I. nichts wirklich Gravierendes. Wenn die Leute ihn fragten, ob es Grund zur Sorge gebe, hatte er ihnen daher versichert: »Vermeidet das Gebiet im Westen um Drury Lane und Holborn. Die Stadt selbst ist kaum betroffen.« Diesen Monat war es außerordentlich warm. »Diese trockene Hitze«, schlossen die meisten Arzte, »steigert das Element Feuer im Blut der Menschen. Das produziert gelbe Galle und macht sie cholerisch.« Vielleicht vermehrte das die Krankheit, dachte er. Im Juli hörte er von einer steigenden Zahl Kranker in Southwark und auf der Straße nach Osten, außerhalb Aldgate. Als man ihm heute das Dokument zeigte, war er äußerst bestürzt.
Die Sterbeliste war ein Dokument, das jede Woche erstellt wurde. In zwei langen Reihen wurden die Sterbefälle und jeweiligen Todesursachen, insgesamt etwa fünfzig, in der Stadt und den umliegenden Kirchspielen aufgezählt. Die meisten Zahlen waren niedrig. »Schlaganfall: 1. Wassersucht: 40. Säuglinge: 21.« Aber an der Spitze der zweiten Reihe hatte der Schreiber auf eine schreckenerregende Zahl gezeigt: 1843. Daneben das furchtbare Wort: Pest.
Pest, Seuche, Schwarzer Tod – alles Namen für dieselbe Krankheit. »Habt Ihr vor, London zu verlassen?« hatte der Schreiber gefragt.
»Nein. Ich bin Arzt.«
»Alle Ärzte, die ich heute morgen bisher gesehen habe, wollen aufs Land. Sie sagen, daß sie sich um ihre reichen Patienten kümmern müssen, und da die Reichen die Stadt verlassen werden, müssen sie es auch«, erklärte der Schreiber. »Doch wenn Ihr wirklich bleiben wollt, sollten wir Euch etwas zum Anziehen holen.«
Das Ungeheuer kam direkt auf Ned zu. Wo konnte er die Kreatur angreifen? Sie hatte keine Beine, und die Arme waren zu dick, um sie zu fassen. Doch dann nahm das Ungeheuer seinen Kopf ab, zog sich einen der großen Lederhandschuhe aus, hielt ihm die Hand zum Schnuppern hin und rief seinen Namen. Es war sein Herr.
Die gewaltige Lederausrüstung, die der Beamte in der Guildhall Meredith gegeben hatte, war furchtbar heiß. Der große Schnabel war mit aromatischen Kräutern gefüllt, da viele glaubten, die Ansteckung werde durch verpestete Luft verursacht. »Armer Ned«, sagte er. »Habe ich dich erschreckt?« Liebevoll tätschelte er den Hund. Er öffnete die Tür, da kam Sir Julius.
Sir Julius mochte den jungen Mann. »Was gibt es Neues über die Pest?« fragte er. Meredith erzählte ihm von der Liste der Sterbefälle. »Wie ich befürchtet habe«, meinte Sir Julius. »Meredith, ich bitte Euch, kommt mit uns. Wir fahren nach Bocton. Die Pest kommt selten bis aufs Land.«
»Ich danke Euch«, sagte Meredith herzlich. »Aber ich glaube, meine Pflicht
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