London
zweiten Jungen in das nächste Haus ging und dasselbe tat. Darauf kehrte er zurück in das erste Haus, wartete, bis jemand in der Nähe war, verfluchte Sam oder Sep, weil es so lange dauerte, und drohte mit der Peitsche. Der Junge duckte sich dann ängstlich und sah so mitleiderregend aus, daß es kaum ein Haus gab, in dem er nicht ein Extratrinkgeld bekam. Die Bezahlung teilten sie mit ihrem einfältigen Partner, aber nicht das Trinkgeld, und so verdienten sie nicht schlecht.
Doch es könnte noch besser gehen, meinte Sam. »Nimm nix, was zu wertvoll ist oder gleich auffällt, wenn's weg ist. Bloß kleine Sachen, die sie nich mal vermissen.« Eine Silbermünze hier und da, ein Elfenbeinkamm, ein goldener Knopf – es läpperte sich zusammen. Doch Seps Widerwillen war eine Prüfung für Sams Geduld. Sep verstand es selbst nicht. Irgendein tiefer Instinkt in ihm schien ihm zu sagen, daß man Eigentum respektieren mußte, vielleicht die Stimme seiner Vorfahren, der Bulls, von denen er nichts wußte. Aber er wollte es nicht tun. Erst nachdem er sich zwei Wochen lang Sams Klagen angehört hatte, stimmte er zu. »Na gut. Wenn's sich ergibt.«
»Prima«, antwortete sein Bruder. »Weil wir morgen in die großen Häuser am Hanover Square gehen.«
Der Bäcker Isaac Fleming war nie in seinem Leben erstaunter als eines Morgens Mitte Mai, als Lady St. James in seinen Laden trat. Der Tod ihres Mannes, der in allen Londoner Zeitungen gestanden hatte, schien ihr nicht nahegegangen zu sein; sie lächelte sogar. »Ich brauche eine Hochzeitstorte«, bemerkte sie beiläufig. Fleming verbeugte sich tief und fragte sich, was er tun sollte.
Für Lady St. James verlief alles nach Plan. Die Richter hatten Nachsicht walten lassen, und da Meredith kein Geld hatte, um eine Buße zu bezahlen, und ohnehin schon im Gefängnis war, hatten sie beschlossen, keine Anklage zu erheben und die Sache fallenzulassen. Die Abmachung, die die Lady mit Jack Meredith getroffen hatte, bestand aus zwei Teilen. Zuerst mußte er das Duell mit St. James provozieren und ihn töten, und dann mußte er sie heiraten. Dafür würde sie aus dem Vermögen, das ihr nun zur Verfügung stand, seine Schulden bezahlen. »Und dann können wir für alle Zeit glücklich leben.« Er hatte seinen Teil des Abkommens soweit erfüllt, doch Lady St. James war vorsichtig. Sie legte den gesamten Familienschmuck und eine beträchtliche Menge an Geld heimlich beiseite. Sobald sie einmal verheiratet waren, würde das Geld unter die Kontrolle ihres Mannes kommen, und sie hatte nicht die Absicht, noch einmal von einem Mann abhängig zu sein. Und bevor sie Meredith' Schulden bezahlte und ihn aus dem Gefängnis holte, würde sie ihn heiraten. Dann würden sie England für ein Jahr verlassen, durch Europa reisen und später wieder ihr normales Leben aufnehmen.
Manche würden ihre rasche Heirat mit dem Mann, der ihren Gatten umgebracht hatte, vielleicht schockierend finden, doch um diese Leute hatte sie sich schon zu kümmern begonnen. Ihre Freunde hatten Gerüchte über ihre grausame Behandlung durch St. James in Umlauf gesetzt. Sie hatte durchblicken lassen, daß sie jahrelang stillschweigend gelitten hatte. Sie konnte beruhigt heiraten.
Doch wie konnte man einen Mann heiraten, der im Schuldengefängnis saß? Im London von 1750 war das kein Problem.
Ein noch größeres Schuldengefängnis als das Clink oder das Marshalsea war das Fleet. Seit den Zeiten der Plantagenets hatte man hier Schuldner eingesperrt; kleine Händler, Rechts gelehrte, Ritter und sogar Peers, vor allem jedoch fand man hier Angehörige des Klerus. Und wie sollte ein Geistlicher für seinen Unterhalt bezahlen oder sogar seine Gläubiger befriedigen? Nun, indem er das tat, wozu er immer noch berechtigt war: Er führte Trauungen durch.
Jedermann konnte im Fleet heiraten; es wurde kein Aufgebot verlesen, es wurden keine Fragen gestellt. Man mochte bereits eine Ehefrau haben, man mochte einen falschen Namen angeben – wenn man die Gebühr bezahlte, wurde man von einem echten Priester getraut, und die Ehe war gültig; eine »Fleet-Hochzeit« nannte man das.
Lady St. James hatte bereits Vereinbarungen mit einem der ehrwürdigeren dieser geistlichen Gentlemen getroffen, der ins Clink kommen und die Zeremonie dort abhalten würde. Erst danach würde sie Jacks Schulden bezahlen und ihn aus dem Gefängnis holen.
Allerdings ärgerte es sie, daß es so kein gesellschaftlicher Anlaß war. Irgendwie mußte es doch eine
Weitere Kostenlose Bücher