London
Kanada und Australien sowie Gesteinsproben aus Südafrika bewundern. Frankreich steuerte eine Kuvertfaltmaschine und einen Springbrunnen mit Eau de Cologne bei. Berlin schickte wissenschaftliche Apparate, Maschinen zur Spitzenherstellung. Die größte Ausstellung jedoch, die fast den halben Raum einnahm, stellte Großbritannien selbst. Kutschen, Maschinen, Textilerzeugnisse, das neue Galvanisierungsverfahren, Uhren, reichverzierte Möbel im viktorianischen Stil, wie man ihn später bezeichnen sollte, Wedgwood-Porzellan und für historisch Interessierte sogar die Nachbildung eines mittelalterlichen Hofes. Die Botschaft der Ausstellung war unmißverständlich: England blühte und gedieh, war weltweit führend in der Industrieproduktion und stand an der Spitze des größten Reiches unter der Sonne.
Abgesehen vom Verlust der amerikanischen Kolonien vor siebzig Jahren hatte das britische Empire ständig expandiert. Kanada, Westindien, Australien, große Gebiete Afrikas, Indien, Australien und Neuseeland standen alle unter seiner Herrschaft, so daß die Sonne über dem Reich im wörtlichen Sinne nie unterging. Aber es war kein orientalischer Despotismus. Die britische Marine beherrschte zwar die Meere, und es stimmte auch, daß mancher lokale Widerstand gegen die Ausbreitung englischen Handels und englischer Aufklärung hart niedergeschlagen wurde, doch tatsächlich war die britische Militärmacht zu Lande sehr klein. Die kultivierteren Dominions entwickelten eine Form selbstverwalteter Zugehörigkeit; der Rest des Empires blieb, was er immer war – ein Fleckenteppich aus Kolonien, verwaltet von Kaufleuten, Siedlern, vereinzelten Garnisonen und einigen wenigen, in der Regel wohlmeinenden Verwaltungsbeamten, die an einen protestantischen Gott und an den Handel glaubten. Es waren keine Abgaben, sondern Rohstoffe, vor allem die überaus wichtige Baumwolle, die nach Großbritannien flossen, wo sie verarbeitet und wieder weltweit exportiert wurden. Der Handel, unterstützt durch Erfindergeist, brachte dem Volk Wohlstand und die Zivilisation in die entlegensten Teile des Erdballs.
Zweieinhalb Stunden schritten Harriet und ihr Mann Arm in Arm durch die Ausstellung, und erst als sie schließlich wieder hinaus in den sonnigen Hyde Park traten, blickten sie hinauf zum Himmel und sahen sich dann mit einer Mischung aus Belustigung und Beklommenheit an. »Wie es wohl Mary Anne ergangen ist?« fragte Penny.
Esther Silversleeves und ihr Mann waren früh dran, als sie über die London Bridge gingen. Arnold Silversleeves war ein respektabler Mann. Er war groß, noch größer als sein Vater, der frühere Leiter von Bedlam. Er hatte eine große lange Nase, war ganz ohne Arg und hatte noch nie einen Witz verstanden. Doch er war bereits Partner in der Ingenieurfirma Grinder und Watson, wo man abgesehen von seiner sonstigen Kompetenz anerkannte, daß seine mathematischen Fähigkeiten fast schon genial waren. Seine Zuneigung zu seiner Frau und den Kindern war einfach und ehrlich, obwohl die einzige wahre Leidenschaft seines Lebens Gußeisen war. Er hatte seine Frau schon einmal zur Weltausstellung mitgenommen, um ihr die Maschinen zu zeigen, davor schon dreimal vor der Eröffnung, um zu sehen, wie der Kristallpalast gebaut wurde, und ihr die Konstruktionsprinzipien zu erklären.
Arnold Silversleeves lächelte, als sie das große, hallenartige Gebäude betraten, die Eisenbahngesellschaft LondonGreenwich. Außer den glänzenden Messingteilen war die Lokomotive grün gestrichen, und hinter ihr stand ein halbes Dutzend brauner Waggons. Sie zischte und dampfte munter und schnaubte hin und wieder fröhlich. Auf dem Bahnsteig neben ihr standen zwei uniformierte Wachen mit spitzen Mützen, die so stolz aussahen, als würden sie den Buckingham-Palast bewachen. Wenn das viktorianische Zeitalter riesige Fortschritte brachte, so deshalb, weil es das Zeitalter der Dampfkraft war.
Obwohl die erste Dampfmaschine bereits zur Zeit Georgs III. erfunden worden war, hatte sich die Einführung der Dampfkraft erstaunlich langsam vollzogen. Die Dampfmaschinen der Textilfabriken im Norden, primitive Dampfschiffe, eine Lokomotive, die in Kohlenzechen Kohle beförderte, und eine dampfgetriebene Presse für den Druck der Londoner Times waren schon seit den Tagen des Regenten in Gebrauch, aber unter Königin Viktoria gab es nun die ersten Personenzüge. Mehrere Eisenbahngesellschaften wetteiferten in London miteinander. Euston Station hatte die Midlands und den
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